Karin Keller-Sutter im Interview
«Ich diene einem Land, nicht meinem Image»

Bundesrätin Karin Keller-Sutter besuchte den Blick in Lausanne. Sie erzählte von ihren Erinnerungen an ihre Jugend in der Romandie und von den Herausforderungen, denen sich die Jugend heute gegenübersieht.
Publiziert: 15.10.2022 um 06:00 Uhr
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Aktualisiert: 15.10.2022 um 07:42 Uhr
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Justizministerin Karin Keller-Sutter erinnert sich an ihre Jugend in der Romandie.
Foto: Keystone
Interview: Daniella Gorbunova

Karin Keller-Sutter (58), die Vorsteherin des Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), war diese Woche zu Besuch bei Blick in Lausanne. Im Interview erklärt die Bundesrätin, warum sie die Romands liebt, weshalb sie Verständnis hat für die Jugendlichen von heute, die auf die Strasse gehen, und was sie in ihrer Jugend in der Westschweiz erlebt hat.

Blick: Frau Keller-Sutter, Sie stammen aus dem Kanton St. Gallen, aber Ihre Liebe zur Romandie ist allgemein bekannt. Was haben die Romands, was die Deutschschweizer nicht haben?
Karin Keller-Sutter:
Abgesehen von der Sprache eine andere Mentalität. Mein Mann – mit dem ich seit 33 Jahren verheiratet bin – findet, dass ich eine andere Person bin, wenn ich Französisch spreche. Er sagt, dass ich offener bin. Aber das liegt vielleicht daran, dass er nicht alles versteht, was ich sage. (Sie lacht.)

Hat Ihre Familie Sie dazu ermutigt, bei uns Französisch zu lernen?
Ja, mein Grossvater mütterlicherseits war Bauer. Meine Mutter ging 1947 nach Lausanne, um dort Au-Pair zu werden. Damals war das so, als würde man ein Praktikum in den USA oder in England machen, um die Sprache zu lernen, wenn man es mit den heutigen Möglichkeiten der Mobilität vergleicht. Für eine Jugendliche aus dem Toggenburg war das etwas ziemlich Aussergewöhnliches. Und sie behielt es in bester Erinnerung. Sie erzählte uns immer mit viel Liebe von Lausanne und der Westschweiz. Sie sagte uns, dass die Menschen hier mehr Kultur und mehr Savoir-vivre hätten und dass wir im Vergleich dazu ein wenig eingeschränkt seien. (Sie lacht.)

Sie war es also, die Sie dazu brachte, den Röstigraben zu überqueren?
Ja, da ich jünger war als meine Schulkameraden, war sie es, die mich dazu brachte, ein weiteres Jahr in der Westschweiz zu verbringen, um Französisch zu lernen. Schliesslich blieb ich vier Jahre in Neuenburg.

Erzählen Sie uns bitte eine prägende Erinnerung aus Ihrer Jugend in Neuenburg.
Da gibt es nicht nur eine! Als ich nach Neuenburg kam, war ich zwischen 15 und 16 Jahre alt. Zu dieser Zeit war die Schule, um ehrlich zu sein, nicht wirklich meine Priorität. Was zählte, waren Ausflüge mit Freunden, ein Glas im Café des Moulins trinken, Flipper spielen, an den See fahren oder zum Weinlesefest gehen, Konzerte besuchen ... Es war eine Zeit der Freiheit, ohne meine Eltern, im Internat.

Sie waren also auf sich selbst gestellt.
Es gab viele Witwen, die davon lebten, junge Mädchen oder Jungen aus der Deutschschweiz zu beherbergen, die wie ich die Handelsschule besuchten. Für den zweiten Teil meines Aufenthalts hatte ich eine Einzimmerwohnung. Und dort war ich allein und hatte wirklich grosse Freiheit. Das Komische daran war, dass meine Eltern sagten, wenn ich am Wochenende nach Hause kam: «Du kommst um 22 Uhr nach Hause! Oder um 23 Uhr!» Während ich unter der Woche nicht beaufsichtigt wurde und tun konnte, was ich wollte. Es war ein bisschen paradox.

Wenn wir der Austauschschülerin Karin gesagt hätten, dass sie im Bundesrat mit dem Spitznamen «eiserne Lady» der Schweiz enden würde, was hätte sie uns geantwortet?
(Lächelt) Sie hätte das alles ein bisschen traditionell gefunden.

Ach ja?
Ja, weil ich nach dem Studium nur einen Wunsch hatte: nach London zu gehen. Damals hatte ich einen Freund in Neuenburg. Er war Musiker und ging dorthin, um Englisch zu lernen. Ich wollte auch dorthin. Man muss aber auch sagen, dass ich mich damals schon sehr für Politik interessierte.

In welchem Alter hat es Sie erwischt?
Es ist schwierig, ein genaues Alter zu nennen. Ich bin in einem Restaurant aufgewachsen. Daher wurde ich schnell mit den alltäglichen Problemen eines kleinen Unternehmens konfrontiert: Steuern, Bürokratie, neue Gesetze, die auch in einem kleinen Unternehmen angewendet werden müssen ... Und wir haben zu Hause immer über Politik diskutiert, vor allem mit meinem Vater, der im Zweiten Weltkrieg Aktivdienst geleistet hatte. Aber wenn ich irgendwo ansetzen müsste, würde ich sagen, dass ich mich erst richtig mit der Politik verheiratet habe, als ich aus Montreal zurückkam, wo ich Austauschstudentin war. Nach dieser Erfahrung bin ich der FDP beigetreten.

Was war für Sie als junges Mädchen und später als junge Politikerin damals wichtig? Was waren Ihre ersten Kämpfe?
Ich würde sagen, die Frage der Abtreibung, die in der Gesellschaft heftig diskutiert wurde. Als junge Frau fühlte ich mich betroffen. Ich war der Meinung, dass Frauen unbedingt das Recht auf Selbstbestimmung haben sollten.

Aber was ist das?
Ich bin politisch in den «Letten-Jahren» aufgewachsen. Daher wurde ich stark von der Problematik der offenen Drogenszene in Zürich geprägt. Ich war 28 Jahre alt und wurde als Gemeinderätin in Wil gewählt. Die Drogenabhängigen bei uns gingen nach Zürich, kehrten aber abends nach Hause nach Wil zurück. Auch hier fühlte ich mich direkt betroffen. Ich war in einem Initiativkomitee für die Einrichtung einer Fixerstube – das war damals noch sehr neu. In dieser Initiativgruppe waren vor allem besorgte Frauen aus allen Gesellschaftsschichten vertreten. Wir haben mit dieser Initiative verloren, aber die auf mehreren Säulen basierende Drogenpolitik hat sich schliesslich durchgesetzt und ist heute nicht mehr umstritten.

Es ist schwer vorstellbar, dass Sie heute mit erhobenem Zeigefinger auf die Strasse gehen. Haben Sie schon einmal demonstriert?
(Sie wirkt ein wenig verlegen) Mmmmh ... Ja ...

Das ist keine Schande!
Nein, nein, natürlich nicht. Es hat nur eine kleine Krise mit meinen Eltern ausgelöst, die diese Kultur nicht hatten. Als ich meinem Vater erzählte, dass ich an einer Demonstration in Zürich teilgenommen hatte, fand er das nicht sehr lustig.

Und was hat Sie auf die Strasse gebracht?
Die Kämpfe für die Schaffung von kostenlosen Räumen (Anmerkung der Redaktion: Vorläufer der Nachbarschaftshäuser) für Jugendliche. Das war in Zürich und St. Gallen, und ich habe eher zufällig daran teilgenommen. Später, als ich älter war, habe ich nie mehr bei einer Demonstration oder einem Streik mitgemacht.

Warum ist das so?
Weil ich als gewählte Politikerin schnell zu der Überzeugung gelangt bin, dass ich andere Hebel in Bewegung setzen kann. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen, sprechen wir über den Frauenstreik: Ich verstehe diejenigen, die sich beteiligen wollen, aber ich als Politikerin habe andere Möglichkeiten, etwas zu bewirken. Wir haben institutionelle Instrumente, mit denen wir die Bedingungen für Frauen wirklich verbessern können. Als Regierungsrätin war ich in meinem Kanton eine Pionierin, indem ich das erste Gesetz der Schweiz gegen häusliche Gewalt verabschiedet habe. Demonstrieren hat für mich daher schnell an Bedeutung verloren. Ausserdem fühle ich mich bei dem Gedanken an einen Streik unwohl.

Trotzdem gehen viele junge Leute regelmässig auf die Strasse. Sie haben das Gefühl, dass alles schief läuft und dass es nicht besser wird. Es liegt ein Hauch von Weltuntergang in der Luft ...
Ich selbst habe nicht das Gefühl von einer Apokalypse. Aber es ist ziemlich normal, dass junge Menschen dieses Gefühl haben. Vielleicht ist es sogar gar nicht so schlecht. Dieses Gefühl der Dringlichkeit bringt sie dazu, sich mit den Problemen ihrer Generation zu befassen. Und jede Generation hat ihre eigenen. Meine zum Beispiel war geprägt vom Ende des Kalten Kriegs und von Wirtschaftskrisen. Das war auch nicht gerade wenig.

Sie verstehen die jungen Leute also trotzdem, die auf die Strasse gehen, beispielsweise beim Klimastreik oder dem Frauenstreik?
Ja, demonstrieren ist ein Grundrecht und eine Freiheit! Solange es friedlich bleibt und nicht gegen das Gesetz verstösst. Und solange alle Meinungen respektiert werden.

Haben Sie nicht auch Mitleid mit der jungen Generation? Sie wird sich mit einer Klimakrise auseinandersetzen müssen.
Wenn Sie das der Generation sagen würden, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat und die heute fast ausgestorben ist, würde man Sie schief ansehen. Herausforderungen hat es immer gegeben. Die Menschheit hat immer wieder grosse Krisen erlebt.

Dennoch hat man den Eindruck, dass die «Boomer» uns vergiftete Geschenke und kein Gegengift hinterlassen haben. Auf politischer Ebene ändert sich nichts oder nur sehr langsam. Braucht es nicht jene Dringlichkeit, die es bei Corona und dem Krieg in der Ukraine gab?
Das Tempo in der Politik ist ziemlich langsam, das muss man zugeben. Und was Sie sagen, ist wahr: Es gab in der Vergangenheit Sünden. Die Umwelt stand nicht wirklich auf der Tagesordnung. Aber ich muss auch die Generation vor mir verteidigen, auf die Sie sich beziehen: Sie haben für den Wohlstand gearbeitet! Und die Generation davor hat den Krieg erlebt.

Okay, aber das löst das Klimaproblem nicht!
Was das Klima angeht, müssen wir natürlich dringend handeln und Entscheidungen treffen. Aber man muss auch realistisch sein: Wir leben in einem System der Mehrheitsdemokratie. Das bedeutet, dass Entscheidungen von der Mehrheit getroffen werden. Zuerst im Parlament und dann vom Volk. Und das ist nicht immer so einfach. Sie haben gesehen, dass zum Beispiel das CO2-Gesetz von den Bürgerinnen und Bürgern abgelehnt wurde. Das bedeutet, dass das Schweizer Volk weniger radikale Lösungen erwartet.

Ist ein Notfallplan für das Klima Ihrer Meinung nach also nicht zu rechtfertigen?
Nein. Es ist ein dringendes Problem, das dringend und mit grosser Aufmerksamkeit angegangen werden muss – und ich glaube, das tun wir auch. Aber, auch wenn ich mich wiederhole, um eine wirksame Politik umzusetzen, muss man Mehrheiten finden.

Dennoch, bei Corona und dem Ukraine-Krieg hat es sich gezeigt, dass der Bund, wenn er will, zu raschen und wirksamen Schritten bereit ist.
In der Herbstsession gab es ein rasches und starkes Signal zugunsten der Solarenergie. Denn die Energieknappheit verschärft die Klima-Notlage. Aber in Wirklichkeit ging diese Massnahme auf Kosten eines gewissen Natur- und Umweltschutzes. Man darf sich keine Illusionen machen: Es gibt immer eine Interessenabwägung. Und meiner Meinung nach kann man das Klima nicht mit Covid vergleichen. Im zweiten Fall war die Gefahr viel unmittelbarer. Es gab eine andere Ebene der Dringlichkeit.

Ist nicht gerade diese Langsamkeit der Schweiz daran schuld, dass junge Menschen weniger wählen gehen?
Ich denke, es gibt verschiedene Gründe, die dies erklären. Einer ist tatsächlich der, den Sie ansprechen: Man findet alles etwas langwierig und die Jugend war noch nie geduldig. Ich habe das erlebt. Als ich anfing, mich für Politik zu interessieren, sagte ich meinem Bruder, dass ich bei den Vereinten Nationen arbeiten wollte, um den Weltfrieden wiederherzustellen. Er sagte mir, dass ich vielleicht mit dem Gemeinderat anfangen sollte ...

Ist es das, was Sie den Jugendlichen sagen? Seid realistisch, geht in die Politik und Schritt für Schritt voran, um die Welt zu verändern?
Ich sage ihnen eigentlich nichts, weil ich es selbst nicht so toll fand, wenn meine Eltern mich belehrt haben. Die Jugendlichen müssen ihre eigenen Erfahrungen machen. Sie müssen einfach nur aktiv werden. Etwas Konkretes tun. Sich engagieren. Und nicht vergessen, dass es ein Privileg ist, dies in der Schweiz tun zu können. Aber noch einmal: Ich werde der Jugend nie grosse Vorträge halten, das hat sie nicht nötig.

Übrigens ist die Jugend heute eigentlich sehr politisiert.
Ja, dieses Gefühl habe ich auch.

Aber warum nutzen Sie nicht die Gelegenheit und wenden sich beispielsweise über Instagram oder TikTok direkt an die Jugend, um die jüngeren Wähler dort abzuholen, wo sie die meiste Zeit verbringen?
Ich bin vielleicht etwas konservativ, was das angeht, denn ich bin nicht einmal in sozialen Netzwerken unterwegs. Für mich ist das nicht die Rolle einer Bundesrätin. Meine Rolle ist es, zu verwalten, zu entscheiden, zu regieren.

Und nicht, im Netz für sich selbst zu werben?
Sie haben es treffend formuliert. Ich diene einem Land, nicht meinem Image. Das ist nicht meine Aufgabe.

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