Es sei kalt gewesen und noch früh an jenem Wintermorgen im Jahr 2019, als er die Eisschicht von den Scheiben seines Autos gekratzt habe, erzählt Louis Fernandes*. «Ich habe die Scheiben so geputzt, dass ich gut raussehen konnte.» Dann sei er losgefahren Richtung Arbeit in Bulle FR.
Doch so weit kam er nicht. Auf dem Weg stoppten ihn Polizisten und forderten ihn auf, die Scheiben besser zu putzen. Später wurde er wegen nur teilweise enteister Windschutzscheibe und auch wegen des nur teilweise enteisten linken Seitenfensters zu einer Busse von 300 Franken und einer bedingten Geldstrafe von fünf Tagessätzen verurteilt, die vollzogen wird, sofern er in der Probezeit von zwei Jahren rückfällig wird.
Eine Strafe mit Folgen
Fernandes ärgert sich über den Vorfall. «Ich hatte noch nie einen Unfall, ich wurde noch nie geblitzt, einzig Parkbussen erhielt ich schon – aber die habe ich immer sofort bezahlt.» Doch die bedingte Geldstrafe sollte ihn noch länger begleiten.
Fernandes kam 2010 von den Kapverden im atlantischen Ozean in die Schweiz – mit einem Visum und der Hoffnung auf ein besseres Leben. Bereits nach wenigen Monaten heiratete er im Kanton Freiburg eine Schweizerin. Weil er sich hier wohlfühlte, habe er 2018 ein Gesuch um erleichterte Einbürgerung beim Staatssekretariat für Migration (SEM) eingereicht, sagt Fernandes. Das können ausländische Ehepartner von Schweizerinnen und Schweizern tun, wenn sie mindestens fünf Jahre hier leben und die Ehe seit drei Jahren besteht.
SEM riet zu Rückzug
Fernandes war guten Mutes, dass er den Schweizer Pass erhalten würde. Doch eineinhalb Jahre nach der Gesuchseinreichung erhielt er ein Schreiben vom SEM. Dieses erklärte, dass Ausländerinnen und Ausländer nur dann eingebürgert würden, wenn sie sich strafrechtlich tadellos verhielten. Da Fernandes wegen der vereisten Scheiben zu einer bedingten Strafe verurteilt worden sei, empfehle man ihm, sein Gesuch zurückzuziehen und es nach Ablauf der Probezeit noch einmal zu versuchen.
Fernandes hielt an seinem Gesuch fest – und wurde enttäuscht. Die Migrationsbehörden lehnten sein Gesuch im Juni 2020 ab. Begründung: ein Verstoss gegen das Strassenverkehrsgesetz. Ausserdem sei sein allgemeines Wissen über die Schweiz dürftig, und er pflege nur wenige Kontakte zu Schweizerinnen und Schweizern.
«Ich fühle mich wie ein Krimineller behandelt»
Fernandes kann den Entscheid bis heute nicht verstehen: «Ich weiss, dass ich die Scheiben besser hätte putzen sollen, aber nun fühle ich mich behandelt wie ein Krimineller.»
Vor kurzem hat auch das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen seine Beschwerde abgewiesen. Die Richter sprechen im Urteil (F-3862/2020) zwar von einem «geringfügigen Vergehen», dennoch halten sie den Entscheid der Migrationsbehörden für richtig. So halte die Bürgerrechtsverordnung fest, dass keine erfolgreiche Integration angenommen werden dürfe, solange eine Probezeit nicht abgelaufen sei.
«Die Richter haben ihre Arbeit nicht gemacht»
Fernandes' Anwalt Pierre Serge Heger findet das Urteil inhaltlich zwar lächerlich, aber es überrascht ihn nicht. Denn die Einbürgerungskriterien seien im neuen Bürgerrecht, das 2018 in Kraft getreten ist, verschärft worden. «Die Richter haben die Kriterien der Verordnung angewendet, und die sind relativ klar.»
Ganz anders sieht das Fanny de Weck. Die Anwältin ist auf Migrationsrecht spezialisiert und aktiv im Verein «Aktion Vierviertel», der sich für leichtere Einbürgerungen engagiert. Sie sagt: «Die Richter haben ihre Arbeit schlicht nicht gemacht.» Ihrer Meinung nach wäre es die Aufgabe der Richter gewesen, die Sache verfassungskonform auszulegen, also beispielsweise die Verhältnismässigkeit des Entscheids zu beurteilen. «Stattdessen rattern die Richter den Fall wie eine Maschine durch. Sie stellen im Urteil nicht einmal die Frage, ob der Entscheid verhältnismässig ist!»
Arth SZ wurde gerügt
Zudem weist die Rechtsanwältin darauf hin, dass bei einer Einbürgerung laut Bundesgericht stets eine Gesamtbeurteilung vorgenommen werden müsse. «Ein Gesuch kann nicht wegen einer isolierten kleinen Sache – wie hier des Fahrens mit nicht vollständig enteister Windschutzscheibe – abgelehnt werden.»
Tatsächlich rügte das Bundesgericht im vergangenen Jahr die Behörden in Arth SZ, die einem Italiener den Schweizer Pass vorenthalten hatten, weil dieser etwa nicht wusste, dass Bären und Wölfe im Tierpark Goldau SZ im selben Gehege leben. Die Bundesrichter hielten fest, dass es unzulässig sei, auf ein einziges Kriterium wie ein Manko bei den geografischen und kulturellen Kenntnissen zu fokussieren, ausser dieses habe eine grosse Bedeutung.
Ob er es noch mal versucht, weiss Fernandes nicht
Die juristische Argumentation ist für Louis Fernandez weniger wichtig als die konkreten Folgen des Entscheids. Er sagt: «Ich habe 900 Franken bezahlt für das Einbürgerungsgesuch, 300 Franken Busse wegen der vereisten Windschutzscheibe, die Anwaltskosten und die Prozesskosten von 1000 Franken – und das alles für nichts.»
Fernandes und sein Anwalt werden den Fall nicht vor Bundesgericht weiterziehen. Unter anderem deshalb, weil die Probezeit im Februar abgelaufen ist und der Kapverdier nun erneut ein Gesuch um erleichterte Einbürgerung einreichen kann. Ob er das Verfahren nochmals auf sich nehmen will, überlegt er sich derzeit.
* Name geändert