Die zierliche Dame auf der Bühne blickt entschlossen in den Raum: «Es braucht mehr Frauen in der Politik. Nicht weil sie es besser können, aber weil sie andere Prioritäten setzen als ihre männlichen Kollegen!»
Die Frauen im Publikum lächeln einander zu, ihre Augen blitzen auf, einige heben die Faust, jubeln. Der Saal ist voll. Viele bekannte Namen aus Politik, Wirtschaft und Kultur sind am Donnerstagabend in der Aula des Berner Kulturzentrums Progr versammelt. Eingeladen hatten der Bund Schweizerischer Frauenorganisationen Alliance F und die liberale Bewegung Operation Libero zur Lancierung der Kampagne «Helvetia ruft». Die soll endgültig Schluss machen mit der Minderheitenrolle von Frauen in der Schweizer Politik.
Für sie kommt nur ein Frauen-Doppelticket in Frage
Die zierliche Dame auf der Bühne ist keine Geringere als Elisabeth Kopp, erste Bundesrätin der Schweiz, 81 Jahre alt und noch lang nicht müde, für die Anliegen der Frauen zu kämpfen. Dass dies bitter nötig ist, zeigt sich darin, dass nach Kopp 17 Bundesräte regierten – ihr aber nur sechs Frauen in die Landesregierung folgten: «Es ist schon ernüchternd für mich, dass immer noch so wenige Frauen in der Politik sind», sagt sie.
Doris Leuthard (55) und Johann Schneider-Ammann (66) machen zwei Plätze im Bundesrat frei – für die Anwesenden im Progr kommt als Nachfolgelösung nur ein Frauen-Doppelticket in Frage. Für beide Parteien. Namen will niemand nennen, nur hie und da hört man jenen von Karin Keller-Sutter (54, FDP) oder Viola Amherd (56, CVP). Nur alt Bundesrätin Elisabeth Kopp sagt offen: «Ich hoffe sehr, dass Keller-Sutter kandidiert und gewählt wird.»
Der frei werdende FDP-Sitz im Bundeshaus könnte eine späte Wiedergutmachung sein. Für den tragischen Rücktritt von Kopp, der sich 2019 zum 30. Mal jährt. Und für die bis heute anhaltende Zeit ohne freisinnige Politikerin im Bundesrat.
Die Übermacht der Männer
Auch die Grandes Dames der FDP appellieren jetzt an ihre Partei. Die ehemalige liberale National- und Ständerätin Vreni Spoerry (80) etwa: «Es ist zwingend, dass die FDP zumindest eine Frau vorschlägt. Die Hintergründe eines Frauenlebens mit ihrem Denken und Fühlen müssen in politischen Gremien ebenso vertreten sein wie die Biografien der Männer!»
Zur Erinnerung: Erst seit 1971 haben Frauen das Stimmrecht auf Bundesebene. Seit damals waren 1020 Männer Mitglieder im National- und Ständerat – aber nur 233 Frauen. Auch heute prägen vor allem Männer die Gesetzgebung: 140 im Nationalrat, 39 im Ständerat, fünf im Bundesrat.
Und die Frauen? Im Nationalrat sind es sechzig. Im Ständerat sieben. Im Bundesrat zwei. Folgen auf Leuthard und Schneider-Ammann Männer, könnte Simonetta Sommaruga bald sechs Herren im Bundesrat gegenübersitzen – wie zu Zeiten Elisabeth Kopps. Sie hätte sich sehnlichst weibliche Unterstützung im Bundesrat gewünscht.
FDP-alt-Ständerätin Christine Beerli (65), die bei der Bundesratswahl vor 15 Jahren Hans-Rudolf Merz unterlag, sagt: «Die lange Absenz nach Elisabeth Kopp macht es umso dringlicher, dass es dieses Mal klappt mit der Frau im Bundesrat. Die FDP hat keinerlei Problem, ausgewiesene Kandidatinnen zu finden.»
Judith Stamm (84), ehemalige CVP-Nationalrätin und Frauenrechtlerin, will keine Ausreden gelten lassen: «Im Jahr 2021 feiern wir 50 Jahre Frauenstimmrecht, und ich fordere ganz klar, dass wir dann mindestens drei Bundesrätinnen haben. Das ist einfach zu bewerkstelligen. Die FDP und CVP sollen Frauen aufstellen. Die Bundesversammlung soll Frauen wählen.»
«Traut euch politische Ämter zu»
Unter den Grandes Dames der Politik ist klar: Nicht nur im Bundesrat, sondern in der ganzen Schweizer Polit-Landschaft müssen Frauen nachrücken. Judith Stamm lässt an diesem Ziel keinen Zweifel zu: «Da bin ich der vollen Überzeugung. Deshalb mache ich auch in meinem hohen Alter einen Aufruf und sage den Frauen: Traut euch politische Ämter zu, stellt euch zur Verfügung!» Und Christine Egerszegi (70), erste Aargauer Ständerätin, stellt klar: «Entweder macht ihr selber Politik, oder es wird mit euch Politik gemacht. Also bringt euch ein!»
Ob sich etwas ändert, wenn sich Frauen mit Männern die Macht teilen, könne sie leider nicht beweisen, sagt Judith Stamm: «Das geht erst, wenn einmal über längere Zeit mindestens 50 Prozent Frauen im Parlament gesessen haben, was ja leider noch längst nicht so ist.»
Das soll «Helvetia ruft» nun ändern. Auf der Progr-Leinwand richtet eine moderne Helvetia vor rotem Hintergrund den Zeigefinger auf die Betrachterin. Sie ist das Sujet der Kampagne. Die Frauen im Saal stossen auf neue Zeiten an – den Rückhalt der alten Garde haben sie schon mal auf sicher.