Es waren die Parteien und das Parlament, die zu Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine den Bundesrat auf Linie brachten. Während die Regierung noch lavierte, setzen sie gerade noch rechtzeitig Druck auf. Nun trägt die Schweiz die Sanktionen gegen Moskau mit. Und vor zwei Wochen demonstrierte Nationalratspräsidentin Irène Kälin (35, AG) mit ihrem Besuch in Kiew die Solidarität der Schweiz mit der angegriffenen Nation.
Die Neutralität soll nicht als Alibi für geschäftstüchtiges Abseitsstehen herhalten, darüber ist sich die Politik ausserhalb der SVP weitgehend einig. Umso erstaunlicher war die Szene, die sich am Dienstagmorgen im Nationalratssaal abspielte. Auf der Tribüne hatte eben Sahiba Gafarova (67), Präsidentin der aserbaidschanischen Nationalversammlung, Platz genommen. Offenbar ein Grund zur Freude in der grossen Kammer. «Dieses Jahr feiern die Schweiz und Aserbaidschan das dreissigjährige Bestehen ihrer diplomatischen Beziehungen. Es ist daher eine besondere Ehre, Sie, Frau Gafarova, und Ihre Delegation hier bei uns in Bern zu empfangen», sagte Irène Kälin. Nach diesem Grusswort erhoben sich die anwesenden Nationalräte zur Standing Ovation.
Applaus für Aserbaidschan? Es ist keine zwei Jahre her, da führte der autoritär regierte Staat einen Feldzug gegen die Armenier in Bergkarabach. Und gewann. Tausende starben, Beobachter berichten von Kriegsverbrechen.
«Ich war zum Zeitpunkt nicht im Saal. Aufgestanden wäre ich sicher nicht», sagt Mitte-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt (45, SO).
Den Dialog pflegen
Es sei richtig gewesen, dass Kälin nach Kiew gereist sei und dass die offizielle Schweiz den russischen Angriffskrieg verurteile. «Aber dann dürfe das Parlament auch den Angriffskrieg von Aserbaidschan gegen die Bevölkerung von Bergkarabach nicht einfach beiseitewischen. «Es fielen Streubomben auf ihre Städte. Vertreter eines Regimes, das solche Taten begeht, haben in unserem Parlament eigentlich nichts verloren oder gehören dann mit genauso scharfen Worten verurteilt wie die Russen», sagt Müller-Altermatt.
Kälin verweist darauf, dass die Einladung bereits 2019 ausgesprochen wurde, als der damalige Ständeratspräsident Jean-René Fournier (64, CVP) Baku besuchte. «Nach zwei Jahren Corona fiel der Besuch nun halt in meine Amtszeit», sagt sie. Grundsätzlich vertrete sie die Meinung, dass es besser sei, den Dialog zu pflegen und im direkten Gespräch kritische Punkte anzusprechen, statt einen Besuch auszuschlagen. «Bei aller berechtigter Kritik muss man sehen, dass es seit Kriegsende auch positive Signale gibt. So sprechen Aserbaidschan und Armenien miteinander.» Diese Gespräche gelte es zu unterstützen, so Kälin.
Für das Regime in Baku wiederum war es ein rundum gelungener Tag. Gafarova traf auch noch Ständeratspräsident Thomas Hefti (62, FDP) und sogar Bundesrat Alain Berset (50, SP).
Diese schönen Bilder aus Bern kann auch die Kritik eines einzelnen Nationalrats nicht schmälern.