Als Justizministerin muss Bundesrätin Simonetta Sommaruga die Schweiz vor Terror schützen. Im grossen Interview mit BLICK zeigt sie sich schockiert über den Anschlag von London und sagt: «Das kann auch uns treffen. Terroristen sind international vernetzt.»
Um Gefahr vorzubeugen, ruft Sommaruga alle Bewohnerinnen und Bewohner auf, aufmerksam zu sein. Radikalisierung passiere häufig schleichend. Lehrer, Eltern oder Freunde sollen sich bei einer Fachstelle für Gewaltprävention melden, wenn sie bei jemandem eine auffällige Veränderung feststellen.
Um Terror zu verhindern, sei es besser, früh einzugreifen, statt zu spät zu kommen. Deshalb verlangt Sommaruga zusätzliche Kompetenzen: «Einer Person, die für den IS kämpfen will, sollte man den Pass entziehen können. Wir wollen keinen Terror exportieren.» Die Polizei soll aber auch eingreifen können, bevor jemand ein Delikt begeht. Sommaruga: «Wir könnten etwa eine Meldepflicht für Verdächtige einführen. Auch Kontaktsperren für gewisse Personen sind ein Thema.»
BLICK: In London hat ein Terrorist vor dem Parlamentsgebäude mehrere Menschen getötet. Hört das denn nie auf?
Simonetta Sommaruga: Ich wünschte, der Terror hätte ein Ende. Doch die Realität sieht anders aus. Bund und Kantone tun aber alles, um die Bevölkerung zu schützen.
Befürchten Sie manchmal, dass Sie selbst Opfer eines Terroranschlags werden könnten?
Das geht uns wohl allen gleich. Bei jedem Terroranschlag im Ausland denkt man: Das hätte auch mich treffen können. Vor einem Jahr haben drei Attentäter in Brüssel 32 Menschen getötet. Mir ist klar: Ich hätte genau in diesem Moment dort sein können. Das ist aber kein Gefühl, das mich jeden Tag begleitet.
Das gibt es nirgendwo sonst auf der Welt: dass die Justizministerin alleine mit dem öffentlichen Bus unterwegs ist. Haben Sie nie Angst?
Angst habe ich nicht. Es ist ein Privileg, dass wir uns in unserem Land so frei bewegen können. Das hat mit Respekt zu tun. Alle Mitglieder des Bundesrates sind dankbar, dass das hier so ist. Wir sollten dazu Sorge tragen.
Ist der Terrorismus die grösste Gefahr für die Schweiz?
Ja. Ein Anschlag wie in London oder Berlin kann auch uns treffen. Terroristen sind international vernetzt. Darum ist die internationale Zusammenarbeit so wichtig. Kein Staat kann alleine für seine Sicherheit sorgen.
Wie oft wurde bereits ein Anschlag in der Schweiz verhindert?
Das ist schwierig zu beurteilen, denn unsere Behörden greifen häufig früh ein. Wir können darum nicht sagen, wie oft ein Anschlag verhindert wurde. Polizei, Nachrichtendienst und Fedpol müssen gut zusammenarbeiten, sich gegenseitig informieren. Das ist die beste Voraussetzung, um einen Anschlag zu verhindern. Aber hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht.
Laut der Bundespolizei besteht die grösste Gefahr in einem Anschlag mit geringem logistischen Aufwand. Wie bekämpfen Sie diesen Low-Cost-Terrorismus?
Tatsächlich kann auch eine Einzelperson mit wenig Aufwand sehr grosses Leid verursachen. Wir dürfen uns deshalb nicht nur auf Polizei und Nachrichtendienst verlassen. Radikalisierung passiert häufig schleichend, Personen verändern sich unauffällig. Alle Behörden sind darauf angewiesen, dass Lehrpersonen, Eltern oder Freunde aufmerksam sind und wenn nötig bei lokalen Fachstellen Rat und Hilfe holen. Kurz: Das Umfeld muss aufmerksam sein.
Wann und wo soll man sich melden?
Man kann sich bei einer Fachstelle für Gewaltprävention melden. Zum Teil gibt es bereits spezielle Radikalismus-Fachstellen. Der Nachrichtendienst kann einen IS-Sympathisanten auch einmal ansprechen und sagen, man habe problematische Dinge beobachtet. Wir erarbeiten derzeit einen nationalen Aktionsplan, der weitere Antworten liefern soll.
Sie rufen quasi alle Schweizer Bürger zum Bespitzeln auf!
Nein. Natürlich ist das immer eine Gratwanderung. Es geht aber nicht darum, die Leute zu denunzieren. Man soll nicht jeden verdächtigen. Wir haben auch kein Gesinnungsstrafrecht. Nur weil jemand etwas Böses denkt, schreiten die Behörden nicht ein. Aber wir kommen nicht darum herum, radikalisierte Personen zu beobachten.
Wenn ein Radikalisierter entdeckt ist: Wie verhindern Sie, dass er terroristisch aktiv wird?
Da braucht es zusätzliche Instrumente, damit die Polizei nicht warten muss, bis eine strafbare Handlung vorliegt. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ein Vater sieht, dass sein Sohn sich radikalisiert, ausreisen und sich einer Terrorgruppe anschliessen will. Einer solchen Person, die für den IS kämpfen will, sollte man den Pass entziehen können. Wir wollen keinen Terror exportieren.
Nützt ein Passentzug etwas? Kann dann ein Radikaler nicht einfach ohne Pass ausreisen?
Versuchen Sie einmal, ein Flugzeug ohne Pass zu besteigen. Und ohne Pass kann man auch nicht so einfach aus dem Schengen-Raum ausreisen. Heute kann sich die Polizei über Landesgrenzen hinweg frühzeitig und schnell austauschen. Das ist einer der zentralen Vorteile der Schengen-Polizeizusammenarbeit. Wer eine Kündigung des Schengen-Abkommens anstrebt, handelt daher verantwortungslos.
Wer gegen das Schengen-Abkommen kämpft, erhöht also die Terrorgefahr?
Ja, ohne Schengen wären wir vor Terror weniger geschützt. Wir würden wichtige Informationen nicht mehr bekommen. Ein Beispiel: Dank dem Zugriff auf das Schengen-System erfährt die Polizei bei einer Personenkontrolle schnell und zuverlässig, ob der Verdächtige im Ausland auf dem Radar der Behörden ist. Ohne diese Informationen hat die Polizei keine Ahnung, mit wem sie es zu tun hat.
Welche weiteren Instrumente braucht die Polizei, um Radikalisierte in Schach zu halten?
Die Polizei soll eingreifen können, bevor jemand ein Delikt begeht. Wir könnten etwa eine Meldepflicht für Verdächtige einführen. Auch Kontaktsperren für gewisse Personen sind ein Thema.
Solange nichts Strafbares vorliegt, kann man die Leute nicht ins Gefängnis zu stecken.
Das ist das grosse Dilemma. Gewisse Dinge sind aber klar geregelt: Wer für den IS Propaganda betreibt, macht sich strafbar. Wer für eine Terrorgruppe gekämpft hat und zurückkehrt, kommt ins Gefängnis. Macht jemand Vorbereitungshandlungen, kann man ihn verhaften. Etwa 500 Personen zeigen im Internet Sympathien für den IS. Diese haben wir auf dem Radar. Bei rund 60 Personen läuft bei der Bundesanwaltschaft bereits ein Verfahren. Die Anzahl wirklich gefährlicher Personen liegt irgendwo zwischen diesen beiden Zahlen.
An manchen Stellen hapert es bei der Zusammenarbeit. So konnte die Schweizer Stelle für Geldwäscherei etwa 60 Prozent der Anfragen ausländischer Stellen nicht beantworten: Wo liegt das Problem?
Da haben wir eine Lücke im Gesetz. Wenn eine ausländische Behörde unserer Geldwäscherei-Stelle meldet, eine Person auf einer Terror-Verdachtsliste habe zwei Konten auf Schweizer Banken, darf unsere Stelle nicht von sich aus aktiv werden. Sie kann nur handeln, wenn sie auch von einer Schweizer Bank eine Meldung erhält. Das ist unhaltbar. Das müssen wir ändern, denn hier geht es nicht um Kleinkriminalität.
Welche Mittel braucht denn die Meldestelle für Geldwäscherei?
Wir müssen die Zusammenarbeit mit dem Ausland verbessern. Unsere Meldestelle soll Hinweisen aus dem Ausland auf Terrorfinanzierung von sich aus nachgehen können.
Heute gelten für religiöse Stiftungen und damit auch für Moscheen-Finanzierer aus dem Ausland fast keine Regeln. Man hat damit keine Ahnung, wer was und warum finanziert. Werden Sie hier die Gesetze verschärfen?
Wir müssen hinschauen, wenn es tatsächlich um Terrorismus geht. Wir prüfen daher, ob bei bestimmten Geldzuflüssen mehr Transparenz nötig ist. Aber nur weil eine Stiftung oder ein Verein aus dem Ausland Geld erhalten, ist das noch nicht verdächtig. Denken Sie nur an einen Fussballverein, der einen Spieler ins Ausland verkauft. Es wird deshalb nicht einfach sein, die Trennlinie zu ziehen.
Ist es nicht störend, dass Geldgeber etwa aus Saudi-Arabien Geld spenden, um hier ein Gesellschaftsbild zu verbreiten, das nicht hierher passt?
Es kommt nicht nur bei Muslimen vor, dass man mit Geld eine bestimmte religiöse Haltung unterstützt. Das mag einem vielleicht nicht gefallen. Es ist aber nicht strafbar. Und es hat nicht zwingend etwas mit Terrorismus zu tun. Da müssen wir aufpassen, dass wir die Dinge nicht vermischen.
Seit 2010 wurden gut 40 Asylbewerber als Risikokandidaten eingestuft. Die Rückschaffung ist aber oft schwierig: Wie viele von denen leben noch in der Schweiz?
Asylbewerber aus bestimmten Staaten werden systematisch vom Nachrichtendienst geprüft. Nicht in allen Fällen liegt etwas vor. Wenn ein Ausländer aber eine Gefahr für die innere Sicherheit ist, können wir ihn schon heute ohne Verurteilung ausweisen.
Im letzten Jahr erkannte der Nachrichtendienst bei 14 Asylbewerbern ein Sicherheitsrisiko: Wurden alle ausgeschafft?
Nein. Wenn einem Ausländer in seinem Herkunftsland Tod oder Folter drohen, schaffen wir ihn nicht dorthin aus. Wir sind konsequent, aber wir halten an unseren Grundwerten fest.
Was macht man in einem solchen Fall?
Dann wird die Person überwacht.
Zu einem anderen Thema. Die Schützenvereine laufen Sturm gegen das EU-Waffenrecht: Mit der Beschränkung auf Zehn-Schuss-Magazine können sie ihre Programme nicht mehr schiessen. Verscherbeln Sie die Schweizer Schützentradition in Brüssel an die Bürokraten?
Jetzt mal langsam! Die Schweiz hat es bei dieser Waffenrichtlinie bereits geschafft, eine Ausnahme zu erhalten, damit wir den Umgang mit den Armeewaffen wie bisher pflegen können. Nun wird die Richtlinie analysiert. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir eine pragmatische Lösung finden, welche die Schweizer Traditionen achtet. Aber wir dürfen dabei eines nicht aus dem Auge verlieren: Die EU-Waffenrichtlinie entstand ja als Antwort auf Anschläge in Europa. Sie ist ein Instrument für unsere Sicherheit.
Schützen sorgen sich, dass sie ihr Hobby nicht mehr ausüben können.
Ich höre die Sorgen deutlich und laut. Darum haben wir ja diese Ausnahme erreicht. Nun kommt der übliche Weg der Gesetzgebung. Bewahren wir kühlen Kopf. Die Reaktion der Schützen kam jedenfalls etwas gar früh.
Die Verfassungsabstimmung des türkischen Präsidenten Erdogan beschäftigt auch die Schweiz. Wie gross ist die Gefahr von Zusammenstössen von Türken in der Schweiz –speziell rund um die Abstimmung vom 16. April?
Es gibt sicher Spannungen. Aber es ist nicht so, dass die Schweiz deswegen einer besonderen Gefahr ausgesetzt wäre.
Der türkische Aussenminister Cavusoglu wollte in der Schweiz auftreten. Der Bundesrat plädierte für freie Meinungsäusserung, der Kanton Zürich wollte den Anlass verhindern. Wer hat recht?
Der Bundesrat hat den Auftritt nicht verboten. Aber das heisst nicht, dass er diesen unterstützt. Die freie Meinungsäusserung ist uns in der Schweiz sehr kostbar. Im Gegenzug erwarten wir, dass eine freie Debatte in der Türkei die gleiche Bedeutung hat. Die Türkei ist ja auch Mitglied im Europarat.
Das Bundesamt für Justiz hat ein Rechtshilfegesuch der Türkei schon abgelehnt. Wie gehen Sie mit den weiteren Gesuchen um?
Da kann ich in aller Deutlichkeit sagen: Die Schweiz liefert niemanden aus, nur weil er ein ausländisches Staatsoberhaupt kritisiert hat.
Das sind jetzt klare Worte. Sonst scheint der Bundesrat viel zurückhaltender als etwa Bundeskanzlerin Merkel oder die niederländische Regierung.
Der Bundesrat sagt deutlich, was uns wichtig ist.
Die türkische Regierung hat offenbar ein Spitzelnetz in der Schweiz, an Hochschulen et cetera. Was tun Sie dagegen?
Verbotener Nachrichtendienst wird nicht toleriert – auch nicht von der Türkei.
Was halten Sie vom Aufruf von BLICK an die Türken in der Schweiz: dass sie Nein stimmen sollen, weil es ein Widerspruch ist, im freiheitlichsten Land der Welt zu leben und gleichzeitig für diktatorische Verhältnisse in der Heimat zu stimmen?
Da hat der BLICK vom Recht auf freie Meinungsäusserung Gebrauch gemacht.