Juso-Chef Kevin Kühnert über die Krise der SPD
«Wir müssen wieder stolz sein»

Er hält die deutsche Politik in Atem, wird gar als neuer SPD-Chef gehandelt: Juso-Chef Kevin Kühnert (30). Im Interview mit dem SonntagsBlick spricht er über das Elend der Sozialdemokratie, sein Coming-out und Alkoholexzesse.
Publiziert: 18.08.2019 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 18.08.2019 um 19:09 Uhr
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Die SonntagsBlick-Redaktoren Fabian Eberhard (links) und Simon Marti im Interview mit dem deutschen Juso-Chef Kevin Kühnert.
Foto: Philippe Rossier
Interview: Fabian Eberhard und Simon Marti

Kevin Kühnert (30) stellt den Kurs seiner Mutterpartei SPD mit radikalen Forderungen infrage. Nun wird er gar als neuer Parteivorsitzender gehandelt. Kein Technokrat, kein Parteifunktionär – bereit, alles einzureissen. Am Samstag feierte Kühnert am Fest der Solidarität im Arbeiterstrandbad Tennwil im Kanton Aargau. Vorher traf SonntagsBlick ihn in Zürich zum Interview. Kühnert nimmt einen letzten Zug von seiner Zigarette und setzt sich hin. Weisse Tischtücher, edle Kristallgläser. Was für ein Kontrast zur rustikalen Architektur rundherum, eine alte Giesserei. Bourgeoisie trifft auf Arbeiterromantik.


SonntagsBlick: Im Juni titelte das Magazin «Der Spiegel»: «Kommt jetzt Kevin?» und brachte Sie damit als Kandidaten für den SPD-Vorsitz ins Spiel. Kommt Kevin jetzt?
Kevin Kühnert: Die Frage beschäftigt mich natürlich. Ich fälle meine Entscheidung in den nächsten ­Tagen.

Zumindest einen Neuanfang würden Sie mit Ihrem Politikstil gut verkörpern.
Aber das ist noch kein Programm. Man darf nicht den Fehler machen, nur daran zu denken, was sich gut vermarkten lässt. Wichtig ist, was man als neuer Chef mit der Partei macht.

Was braucht es denn, um die SPD so aufzustellen, dass sie wieder Erfolg hat?
Eine Partei funktioniert nur, wenn ihre Mitglieder stolz auf sie sind. In einer schlecht funktionierenden Partei entschuldigen sich die Mitglieder für ihre Politik. So entsteht Fatalismus. Und das ist die Situa­tion, die wir heute haben.

Sie sind gerade einmal 30 geworden. Und nun werden Sie als neuer Chef gehandelt. Das ist doch ein Ausdruck für die Verzweiflung der SPD.
Erst hiess es, wir bräuchten neue Gesichter. Jetzt wird kritisiert, dass sich kaum Politiker aus der ersten Reihe trauen. Dabei können wir durchaus selbstbewusst auf das Kandidatenfeld blicken.

Glauben Sie denn, dass die SPD eine Volkspartei bleibt? Sie stehen in Umfragen bei 15 Prozent.
Wir haben noch immer 400000 Mitglieder. Ich bin 2005 beigetreten und habe seither fast nur verlorene Wahlen erlebt. Wären wir ausschliesslich auf der Suche nach ­einer möglichst erfolgreichen Partei, müssten wir alle woanders hingehen. Aber die Mitglieder der SPD sehen sich auch in einer historischen Aufgabe.

Historisch sind Sie die Partei der Arbeiterschaft. Wie wollen nun gerade Sie das verkörpern?
Dazu müsste definiert werden, was im Jahr 2019 eine Arbeiterpartei ist. Natürlich wollen wir klassische Arbeiter vertreten. Doch früher wurden die Wahlen zwischen dem konservativen Block und dem Block der Arbeiter entschieden. Mit der Fragmentierung der Gesellschaft haben sich die politischen Lager zergliedert. Identitäten werden vielschichtiger, Arbeit wird prekärer, das Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft der Arbeiter schwindet. Es wäre ahistorisch, einer Welt hinterherzulaufen, die es so nicht mehr gibt.

Hat denn die SPD nicht etwas verpasst bei dieser Entwicklung? Die Basis sorgt sich doch beispielsweise viel mehr um die ­Zuwanderungsfrage als es die Parteispitze tut.
Es gibt tatsächlich Leute, die sich aufgrund der Migrationspolitik von der SPD entfremdet haben. Genauso gibt es Leute in urbanen Gebieten, die sich von uns abwenden, weil wir die Verschärfung des Asylrechts mitgetragen haben.

Also haben Sie alles richtig gemacht?
Der Fehler war, dass wir den klassischen Diskurs über die Verteilung des Wohlstands kaum noch geführt haben. Dieses freie Feld wurde von den Rechtspopulisten besetzt. In Deutschland gab es immer Menschen mit rassistischen, antisemitischen oder homophoben Vorurteilen, die nicht zwingend rechts gewählt haben. Diese Leute mobilisiert jetzt die AfD.

Trägt die Grosse Koalition Schuld am Entstehen der AfD?
Sie hat das begünstigt. Aber man darf die Wähler nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Ernstnehmen heisst eben auch zu sagen, dass es unanständig ist, sein Kreuz bei der AfD zu machen.

Würden Sie die AfD als rechts-extrem bezeichnen?
Analysiert man die Partei und schaut sich deren Strukturen an, kann man wohl zum Schluss kommen, dass sie das in weiten Teilen ist. Allerdings hilft diese Zuschreibung nichts. Das provoziert nur Beissreflexe, die nicht hilfreich sind in der Debatte. Manche denken, dass es den AfD-Wählern an Informationen über die Partei mangelt und dass man denen nur klarmachen muss, dass in den Reihen der AfD Rechtsextreme agieren. Die Wahrheit ist aber: Den Leuten ist sehr bewusst, wer da mitmischt. Die wählen nicht trotz eines Björn Höcke AfD, sondern wegen eines Björn Höcke. Ich will die AfD deshalb an ihrem Taten problematisieren und nicht anhand eines Etiketts.

Gibt es die Grosse Koalition an Weihnachten noch?
Schwer zu beantworten. Ich wollte nicht, dass wir sie eingehen. Aber einfach aus etwas auszusteigen, ohne zu wissen, was man dann will, wäre dumm.

Aber Ihr längerfristiges Ziel ist eine Regierung aus SPD, Grünen und Linken?
Gerne auch kurzfristig. Wir haben in den letzten Jahren zweimal linke Mehrheiten im deutschen Bundestag nicht genutzt. Wir stehen in der Verantwortung, dass dies nicht noch einmal geschieht.

Dazu passt Ihr öffentliches Nachdenken über die Kollektivierung von Unternehmen.
Man darf, ja man muss sich doch eine gerechte Gesellschaft vorstellen und Lust darauf machen dürfen. Ich habe ja kein neues Gesetz gefordert. Wir müssen auch über die Vermögenssteuer sprechen oder über Erbschaftssteuern. Das heisst nicht, dass alle mit mir einverstanden sein müssen.

Die Schweizer Sozialdemokraten halten sich bei knapp 20 Prozent. Was macht die SP besser als die SPD?
Augenzwinkernd könnte man sagen: Vielleicht vollziehen sich Entwicklungen in der Schweiz eben einfach etwas gemächlicher.

Sie rechnen also mit einem baldigen Einbruch der SP?
Im Gegenteil. Blickt man nach Europa, gibt es ja durchaus sozialdemokratische Parteien, die dem Trend trotzen.

In Dänemark zum Beispiel, wo sich die Sozialdemokraten nach rechts geöffnet haben und einen dezidiert migrationskritischen Kurs fahren. Ist das in Ihrem Sinn?
Ich denke mehr an Spanien oder Portugal. Da reiten die linken Kräfte auf einer Erfolgswelle.

Die Schweizer Sozialdemokraten verstehen sich im europäischen Vergleich als am weitesten links positioniert. Teilen Sie den Eindruck?
Es ist schon so, dass man hier nicht zu den Jusos blicken muss, um Positionen zu finden, die in der deutschen Debatte ziemlich weit links einzuordnen sind. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass es in der Schweiz keine grössere Partei links der SP gibt. In Deutschland haben wir die Linkspartei, die uns Probleme bereitet. Da kommt dann schnell die Aussage: Also so links können wir jetzt nicht politisieren, sonst können wir ja gleich zur Linken gehen. Das lähmt.

Sollten Linke und SPD sich Ihrer Meinung nach zusammenschliessen?
Zugegeben: Sieht man sich die Programmatik und die strategische Ausgangslage an, spräche vieles dafür. Aber das ist nun mal ein hoch emotionales Thema, wo der Stolz der Sozialdemokraten reinspielt. Der Linken hängt der Vorwurf nach, Nachfolgepartei der SED zu sein. Und in der DDR wurde die SPD zwangsfusioniert. Auch wenn die SED-Elemente in der Linken mittlerweile fast inexistent sind, fällt es auch mir, der im Jahr des Mauerfalls geboren ist, schwer zu sagen: Ach Leute, jetzt habt euch doch nicht so, betrachtet das doch mal nüchtern.

Sie sprechen die historische Belastung der deutschen Politik an. Nun ist der Mauerfall 30 Jahre her, der Zweite Weltkrieg liegt mehrere Generationen zurück. Zeigt sich im Aufkommen der AfD so etwas wie eine Normalisierung der Politiklandschaft?
Von einer Normalisierung würde ich in diesem Fall nicht sprechen. Die AfD ist für mich nicht normal. Ein logischer Prozess ist es aber vielleicht. Die NPD war immer «pfui!», die wählt man nicht, das sind Nazis. Die AfD bietet nun für manche Menschen offenbar eine ausreichende bürgerliche Fassade, die die Partei wählbar macht.

Eine Neuerscheinung sind auch Sie. Noch vor zwei Jahren kannten die wenigsten Ihr Gesicht …
Schön war die Zeit!

Die plötzliche Prominenz macht Ihnen also Mühe?
Sagen wir es so: Es ist schon eine grosse Veränderung. Nach ­einem Fest sturzbetrunken nach Hause zu torkeln, das überlegt man sich nun zweimal. Man will ja nicht auf der Titelseite einer Zeitung landen. Ich bin nun ein Beobachtungsobjekt, wie ein Zoo­tier in der politischen Debatte. Die ­einen laufen am Gehege vorbei und sagen: «Guck wie niedlich», die anderen: «Was für ein hässliches Vieh!». Wichtig ist, dafür zu sorgen, dass ein gutes Umfeld ­einen auf dem Boden hält.

Gelingt Ihnen das?
Ich würde sagen ja. Ich befinde mich zurzeit in einer Art Wettbewerb, in dem ich mir selber beweisen will, dass man im Politikbetrieb bei sich selber bleiben kann.

2018 outeten Sie sich in einem Interview öffentlich als homosexuell. Wie schwer fiel Ihnen dieser Schritt?
Ach, dieses Interview war keine besonders mutige Angelegenheit. Mein persönliches Outing liegt 15 Jahre zurück und hat damals bei allen Menschen stattgefunden, die mir wirklich wichtig sind. Das war für mich der wirklich sensible Moment, wo es um Freunde und Familie geht. Eine Situation, die mich emotional stark beschäftigt hat. Das Interview im vergangenen Jahr war mehr eine Chronistenpflicht.

Trotzdem erfuhr die grössere Öffentlichkeit erst dann von Ihrer Homosexualität. Erfahren Sie seither Anfeindungen?
Kaum. Klar, es gibt AfD-Leute, die das ins Feld führen, aber die finden immer etwas. Das ist ja schon fast ehrenhaft, von denen beleidigt zu werden. Natürlich weiss man, dass es bei den Konservativen Leute gibt, die in ihrem Weltbild 30 Jahre zurückhängen und das noch immer komisch finden. Aber es ist heute zum Glück breiter Konsens, dass man sich nur in die Nesseln setzt, wenn man einen Menschen aufgrund der Sexualität angreift. Zumindest öffentlich. l

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