Herr Forster, wann waren Sie zuletzt auf dem Rütli?
Nicola Forster: Vor einem Jahr, am 1. August. Da hoffte ich schon, dass es klappen könnte mit dem Präsidium der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG). Ich habe mich dort quasi auf meine Aufgabe als neuer Rütli-Gastgeber vorbereitet.
Jetzt behaupten Sie sicher, dass der Ort schon immer eine spezielle Bedeutung für Sie hatte.
An sich steht das Rütli ja für den Schwur von 1291 und für die katholischen Urkantone. Aber weil 1848 bei der Gründung der modernen Schweiz kein Ort geschaffen wurde, der uns alle verbindet, ist das Rütli zu einem gesamtschweizerischen Symbol geworden. Es steht so auch für die Versöhnung nach dem letzten Schweizer Bürgerkrieg. Diese Geschichte spürt man, das hat etwas Mythisches.
Es ist eine Wiese.
Aber eben «die» Wiese der Schweiz (lacht)! Mich versetzt sie in eine nachdenkliche Stimmung. Sie bringt mich zum Sinnieren über die Schweiz und ihren Platz in Europa und der Welt.
Sie sagen, die Schweiz habe sich aufs Rütli geeinigt. Viele Städter, viele Secondos dürften keine derart emotionale Beziehung zu diesem Ort haben, wie Sie sie beschreiben.
Da bin ich mir nicht so sicher. Dieses Jahr gibt es am 1. August ein Frauen-Rütli: 600 Bürgerinnen, darunter zwei Bundesrätinnen, feiern zusammen 50 Jahre Frauenstimmrecht. Die diesjährige Feier ist ein Ausdruck der Schweizer Demokratie und ihrer jahrhundertelangen Entwicklung.
Dafür ist ein Frauen-Rütli nötig?
Definitiv. Die Einführung des Frauenstimmrechts war der letzte grosse Entwicklungsschritt der Schweizer Demokratie. Und dieser Schritt passierte sehr spät. Der Prozess der Gleichberechtigung aber ist noch längst nicht abgeschlossen.
Werden Sie denn am 1. August vor Ort sein – als Mann?
(Lacht) Natürlich. Fortschritt ist ja nur gemeinsam möglich. Auch 1971, bei der Einführung des Frauenstimmrechts, wäre es schwierig gewesen ohne die Männer. Wichtig ist aber, dass die Frauen im Mittelpunkt stehen. Meiner Meinung nach sollte das Rütli ein Ort sein, wo man nicht nur Vergangenes feiert, sondern sich auch Gedanken macht über unser Zusammenleben und die Frage, wo wir mit der Schweiz in Zukunft hinwollen.
Also ist die diesjährige Feier ein Versuch, den konservativen Kräften das Rütli streitig zu machen?
Nein. Das Rütli gehört allen. Keine politische Haltung hat es für sich gepachtet. Am 1. August waren auch schon der Fussballverband oder Pro Juventute zu Gast – und nächstes Jahr freuen wir uns auf die Schwinger!
Die SGG setzt sich seit jeher für die ärmere Bevölkerung ein. Heute ist das soziale Netz viel enger gespannt. Braucht es die SGG da überhaupt noch?
Es ist nicht so, dass niemand mehr durch die Maschen fällt. In der Schweiz leiden noch immer 600'000 Menschen unter Armut, darunter viele Kinder und Jugendliche. Zudem gibt es weitere soziale Brennpunkte.
Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) ist 1810 gegründet worden, um die Armut in der Schweiz zu bekämpfen. Als die Mitglieder erfuhren, dass auf dem Rütli ein Hotel gebaut werden sollte, kaufte die Gesellschaft die Wiese im Jahr 1859 nach einer nationalen Sammelaktion und vermachte sie der Eidgenossenschaft. Aus der SGG entstanden unter anderem Pro Juventute, pro Senectute und die Berghilfe.
Die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) ist 1810 gegründet worden, um die Armut in der Schweiz zu bekämpfen. Als die Mitglieder erfuhren, dass auf dem Rütli ein Hotel gebaut werden sollte, kaufte die Gesellschaft die Wiese im Jahr 1859 nach einer nationalen Sammelaktion und vermachte sie der Eidgenossenschaft. Aus der SGG entstanden unter anderem Pro Juventute, pro Senectute und die Berghilfe.
Wo orten Sie diese?
Wir alle spüren die Gräben in der Schweiz: jener zwischen Stadt und Land, zwischen den Sprachregionen oder nun der Impfgraben. Bei jeder fünften Abstimmung liegt der Unterschied zwischen Stadt- und Landbevölkerung bei über 20 Prozent. Ob CO2-Gesetz, Konzernverantwortungs-Initiative oder das Jagdgesetz, das passiert immer häufiger. Wir müssen jetzt dringend den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken.
Da widerspricht niemand. Was wollen Sie unternehmen?
Wir müssen aktiv werden, um wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Dafür wollen wir Menschen mit unterschiedlichen politischen Haltungen zusammenbringen. Das tun heute nur wenige, vielmehr bewegt man sich in Blasen Gleichgesinnter, was häufig zu einer Radikalisierung führt. Anders als die Parteien vertreten wir keine Partikularinteressen.
Aber der Effekt ist ein kleiner, wenn ein paar Menschen miteinander diskutieren.
Digital können wir Tausende Menschen zusammenbringen. Das sollte man nicht unterschätzen. Es geht darum, trotz unterschiedlicher Meinungen zusammenzusitzen und Kompromisse zu finden. Nur so funktioniert die Schweiz.
Sind Sie denn nicht selber die Personifizierung dieser Spaltung? Sie gründeten zum Beispiel die Operation Libero mit, die sich als Gegenpol zur SVP versteht und entsprechend auftritt.
Ich halte es mit dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt, der einmal sagte: «Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.» Dieser Meinungsaustausch ist elementar, der soll auch pointiert sein. Durch die Operation Libero bekam die junge weltoffene Schweiz eine Stimme. Doch die Stimme der SVP und ihrer Wähler ist ebenso wichtig. Wir müssen uns einfach fragen: Wie gestalten wir diesen Austausch möglichst konstruktiv?
Ein weiteres Ziel der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft ist es, die Zivilgesellschaft in der Schweiz zu stärken. Wie kann das gelingen in einer Zeit, in der sich kaum jemand mehr längerfristig engagieren will?
Das ist tatsächlich eine grosse Herausforderung. Wir halten in der Schweiz gerne Sonntagsreden auf das Milizsystem – und vergessen dabei, dass es nicht vom Himmel fällt. Da sehe ich auch die Unternehmen in der Pflicht, ihren Angestellten ein freiwilliges Engagement zu ermöglichen. Ich höre von vielen Leuten, die sich in der Politik oder in Vereinen engagieren möchten, dass dies mit ihrem Beruf nicht vereinbar sei. So verlieren wir etwas von diesem Geist, der die Schweiz ausmacht. Dieses zivilgesellschaftliche Engagement war immer Teil des Schweizer Erfolgsmodells.
Ist das Problem nicht auch unsere individualistische Lebensweise? Kein Arbeitgeber hält einen davon ab, sich in einem Verein zu engagieren – trotzdem tun es immer weniger Leute.
Das freiwillige Engagement muss zu unserem Leben passen. Und da gibt es interessante Entwicklungen. So entstehen neue, unkomplizierte Formen von Freiwilligenarbeit, bei denen man sich jeden Tag fünfzehn Minuten Zeit nimmt. Während man auf den Zug wartet, kann man einem Verein zum Beispiel helfen, seine Website zu aktualisieren.
Das ist ja schön und gut. Das Präsidium einer 500-Seelen-Gemeinde wird sich aber nie mit Arbeitseinheiten von fünfzehn Minuten pro Tag bewältigen lassen.
Das ist so, in den Gemeinden haben wir ein riesiges Problem. Die Parteien schaffen es nicht mehr, die Menschen zu motivieren, solche Posten zu übernehmen. Was sich auch daran zeigt, dass ein grosser Teil der Gemeinderäte parteilos ist. Mancherorts muss man die Leute schon fast dazu zwingen, ein solches Amt anzunehmen.
Welche Lösung sehen Sie?
Es braucht eine gesellschaftliche Diskussion: Ist uns das Milizsystem etwas wert? Wenn es das ist, müssen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, es am Leben zu erhalten.
Nicola Forster (36) ist seit 2020 Präsident der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG). Zudem amtet er als Co-Präsident der Grünliberalen des Kantons Zürich. Noch als Jus-Student gründete er den aussenpolitischen Thinktank Foraus, später gehörte er zu den Mitgründern von Operation Libero und dem Staatslabor. Der Sozialunternehmer und Moderator ist national und international bestens vernetzt und wohnt in Zürich.
Nicola Forster (36) ist seit 2020 Präsident der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG). Zudem amtet er als Co-Präsident der Grünliberalen des Kantons Zürich. Noch als Jus-Student gründete er den aussenpolitischen Thinktank Foraus, später gehörte er zu den Mitgründern von Operation Libero und dem Staatslabor. Der Sozialunternehmer und Moderator ist national und international bestens vernetzt und wohnt in Zürich.
Wäre es ein Lösungsansatz, solche Ämter auch für Ausländer zu öffnen?
Wenn es engagierte Ausländerinnen und Ausländer gibt, die in der Gemeinde verwurzelt und kompetent sind sowie gerne ein solches Amt übernehmen würden, fände ich eine Öffnung etwas sehr Sinnvolles.
Was halten Sie von der Idee eines Bürgerjahrs, die derzeit wieder Thema ist: Jede Schweizerin, jeder Schweizer soll entweder ins Militär oder einen Milizdienst leisten?
(Lacht) Viel! Denn die Idee eines «Service Citoyen» wurde von unserer SGG-Mitarbeiterin Noémie Roten initiiert.
Sie meinen die Volksinitiative, die am 1. August lanciert werden soll …
Genau. Sie sieht vor, dass jede junge Frau und jeder junge Mann einen Einsatz leistet – entweder im Militär- oder Milizdienst. Wobei der Bürgerdienst auch Ausländerinnen und Ausländern offenstehen soll. Ich bin überzeugt: Ein solcher Dienst würde helfen, den Zusammenhalt der Schweiz zu stärken.
Sie sprechen aus eigener Erfahrung?
Ja. Als Zugführer im Zivilschutz habe ich mehrere Einsätze in Altersheimen absolviert, das hat mir sehr viel gegeben. Ich konnte etwas Gutes tun und profitierte dabei vom Austausch mit anderen Generationen und Menschen mit einem anderen Hintergrund. Ein Bürgerinnendienst ist Teil einer gesellschaftlichen Reform, die es jetzt braucht.
Welches sind die anderen Puzzleteile?
Ein Viertel der Schweizer Bevölkerung hat heute kein Stimmrecht: Sie leben hier und sind von Entscheiden betroffen, können diese aber nicht mitgestalten. Hier sind Antworten gefragt. Das muss nicht zwingend das Ausländerstimmrecht auf nationaler Ebene sein. Die Mitwirkung kann auch auf kommunaler Ebene gestärkt werden: Schon heute ist das in einem Viertel aller Schweizer Gemeinden der Fall. Wir denken in der Schweiz gerne, wir hätten bereits das Endstadium der Demokratie erreicht. Das ist natürlich eine Illusion. Es gibt noch viel zu tun!