Es rumort in Europa. Das Brexit-Votum der Briten stellt nicht nur die Zukunft der Europäischen Union in Frage. Plötzlich wird in den Mitgliedsstaaten grundsätzlich über den Umgang mit Volksabstimmungen diskutiert.
Die jungen, gut gebildeten Städter Englands sehen sich von den älteren Europa-Gegnern um ihre internationale Zukunft gebracht – und schimpfen auf die grauen Hinterwäldler.
Die Debatte hat auch die Schweiz erreicht. Jacqueline Fehr (53), Justizdirektorin des Kanton Zürich, plädiert auf Facebook für eine Neugewichtung des Stimmrechts. So erhielten die Jungen an der Urne mehr Gewicht – die Alten weniger.
Konkret schlägt die Sozialdemokratin vor: 18- bis 40-Jährige sollen zwei Stimmen, 40- bis 65-Jährige anderthalb und über 65-Jährige eine Stimme erhalten. Ein 20-Jähriger hätte an der Urne künftig doppelt so viel politisches Gewicht wie seine 70-jährige Grossmutter.
Schliesslich müssten die Jungen viel länger mit Urnenentscheiden leben, begründet Fehr ihren Vorschlag. «Dazu kommt, dass sie sich demografisch zunehmend in einer Minderheit befinden», erklärte sie im «Tages-Anzeiger».
Ein Bürger, eine Stimme – die Urformel der Demokratie wäre ausser Kraft gesetzt, zugunsten eines Wählersegments, das sich zumeist nur unterdurchschnittlich an Abstimmungen beteiligt.
Mit ihrem Facebook-Post hat Fehr allerdings zünftig danebengehauen. Die politisch aktiven Jungen, die von einer solchen Neugewichtung des Stimmrechts massiv profitierten, wollen von solchen Visionen überhaupt nichts wissen. «Angesichts des demografischen Wandels stellt sich die Frage des Stimmrechts tatsächlich», sagt die frisch gekürte Juso-Präsidentin Tamara Funiciello (26). «Aber den Jungen zwei Stimmen zu geben, ist nicht zielführend und widerspricht unserem Demokratieverständnis», sagt die Jungsozialistin.
Es sei falsch, «einen Generationenkonflikt he-raufzubeschwören.» Ganz genauso tönt es bei der Jungen SVP. «Die Politik braucht demokratische Legitimation. Und das ist nur gewährleistet mit dem Grundsatz: ein Bürger, eine Stimme», betont JSVP-Präsident Benjamin Fischer (25). «Alles andere ist reine Willkür. Dann öffnen wir die Büchse der Pandora.»
Dass die Jungen in der Schweiz eine stetig kleinere Minderheit werden, negiert aber auch der politische Nachwuchs nicht. «Natürlich gibt es diese demografische Zeitbombe», sagt der Präsident der Jungfreisinnigen, Andri Silberschmidt (22). «Aber nur, weil die Jungen künftig noch mehr zu einer Minderheit werden, muss man nicht das Stimmrecht anpassen», so der Zürcher.
Stimmrecht schon für Kinder?
Dennoch: Ganz auf verlorenem Posten steht Fehr mit ihrer Position nicht. Auch die liberale Denk-fabrik Avenir Suisse macht sich Gedanken über die Zukunft der Demokratie. Sie schlägt eine Senkung des Stimmrechtsalters auf 16 Jahre vor. Und nicht nur das: Bis der Nachwuchs diese Altersschwelle erreicht hat, sollen Eltern an dessen Stelle das Stimmrecht ausüben. Eltern an die Macht – auf Kosten der Alten.
Doch auch dieser Vorschlag hat es schwer. «Gugus», nennt ihn der Bündner CVP-Nationalrat Martin Candinas (35), selbst dreifacher Vater.
Ganz anders SP-Nationalrätin Chantal Galladé (43): «Ich bin für Stimmrechtsalter 0» sagt die Mutter zweier Töchter. Kinder und Jugendliche seien durchaus fähig, politische Rechte auszuüben. Sie interessierten sich für Politik, wenn man ihnen die Angst davor nehme. Das Ergebnis? «Wir hätten eine ganz andere Demokratie, eine andere, dynamische Gesellschaft», ist die Winterthurerin überzeugt.
Galladé gesteht: Ihre elfjährige Tochter habe bereits für sie abgestimmt: «Im Parlament war ich gegen das bedingungslose Grundeinkommen», erzählt sie. «Doch meine Tochter war ganz anderer Meinung und hat sehr gut argumentiert. Da es um ihre Zukunft ging, liess ich sie das Ja auf den Stimmzettel schreiben.»