Junckers Krisenprogramm im BLICK-Check
Die EU hat nichts zu lachen

Jean-Claude Juncker sieht die EU in einer existenziellen Krise. Vier Experten analysieren Junckers Vorschläge, welche die Lage der EU verbessern sollen.
Publiziert: 15.09.2016 um 00:30 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 17:21 Uhr
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«EU ist derzeit nicht in Topform»: Jean-Claude Juncker hielt gestern seine Rede zur Lage der Union im EU-Parlament.
Foto: AFP

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat gestern seine mit Spannung erwartete Rede zur Lage der Union in Strassburg (F) gehalten. Er sprach über die Flüchtlingskrise, Brexit und milliardenschwere Investitionen. Es gebe zwar im Vergleich zu seiner Rede vor einem Jahr Fortschritte, doch lasse die Lage der EU weiter zu wünschen übrig.

«Die EU ist derzeit nicht in Topform», so Juncker. Er sieht die EU gar in einer existenziellen Krise. Abgeordnete der grossen Fraktionen – der konservativen Europäischen Volkspartei und der Sozialdemokraten – äusserten sich ebenfalls besorgt über den Zustand der EU und begrüssten Junckers Vorschläge grundsätzlich. Die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen meinte hingegen, er habe eine Grabrede auf die EU gehalten. BLICK analysiert mit vier verschiedenen Experten vier Hauptpunkte in Junckers Rede.

Am Freitag treffen sich die EU-Chefs zum Gipfel in der slowakischen Hauptstadt Bratis­lava. Thema erneut: die Zukunft der Union. Am kommenden Montag wird Juncker dann in der Schweiz erwartet. Er trifft zum 70-Jahr-Jubiläum der historischen Rede des ehemaligen britischen Premiers Winston Churchill an der Univer­sität Zürich Bundespräsident Johann Schneider-Ammann.

Mehr Arbeitsstellen

Um die Wirtschaft anzukurbeln, will Juncker seinen Investitionsplan verdoppeln: Statt 315 Milliarden Euro binnen drei Jahren sollen nun 630 Milliarden bis 2022 fliessen.

Yngve Abrahamsen von der ETH-Konjunkturforschungsstelle: «Das ist ein ehrgeiziges Programm, aber ohne Visionen und Ziele wird Europa nicht vorwärtskommen. Bislang ist die EU insgesamt eine Erfolgsgeschichte, und das jetzt lancierte Investitionsprogramm soll die Kohäsion voranbringen. Es ist aber auch ein Signal dafür, dass für die wirtschaftlich schwächeren Staaten in der EU die weitere Zusammenarbeit mehr Vorteile bringen wird als ein Alleingang.»

Digitale Offensive

WLAN für alle: Bis 2020 soll es in den Zentren aller europäischen Grossstädte freies WLAN geben. Das ist Teil von Junckers Plan für einen gemeinsamen digitalen Markt in der EU.

Jakub Samochowiec, Forscher beim Gottlieb-Duttweiler-Institut: «Die Idee ist reizvoll, die Beschränkung auf Innenstädte greift aber zu kurz. Wir wollen heute überall online sein. Diesem Bedürfnis werden unlimitierte Datenabos eher gerecht. Einzig Touristen brauchen WLAN noch, weil Roaming heute noch sehr teuer ist. Aber auch das wird sich ändern. Wenn nicht flächendeckend angeboten, könnte WLAN in ein paar Jahren das sein, was heute das Festnetz-Telefon ist.»

Kein Sonderwunsch

Kein Kompromiss mit den Briten: Juncker bedauert den Brexit, sieht die EU dadurch aber nicht gefährdet. Ohne Personenfreizügigkeit müssten die Briten aber auch auf die Vorteile des Binnenmarkts verzichten. «Es wird keinen Binnenmarkt à la carte geben.»

Thomas Schäubli, Polit-Experte bei Wellershoff und Partners: «Die EU wird nicht von ihrer harten Position abweichen: Die Freizügigkeit ist ihr heilig. Was Juncker heute an Londons Adresse gesagt hat, werden auch wir am kommenden Montag in Zürich hören. Das zeigt auch Brüssels Reaktion auf den Inländervorrang light: Mehr kann man der EU nicht entgegenkommen. Aber selbst das ist in der EU noch umstritten.»

Zusammenarbeit

Junckers Analyse: «Die EU ist nicht in Topform. Wir haben es in Teilen mit einer existenziellen Krise der Europäischen Union zu tun.» Die 28 Mitgliedsstaaten würden zu stark auf ihre nationalen Inte­ressen fokussieren. «Die Zahl der Bereiche, in denen wir solidarisch zusammenarbeiten, ist zu klein.»

Dieter Freiburghaus, emeritierter Professor für institutionelle Politik: «Herrn Junckers Analyse ist natürlich richtig, geradezu trivial. Nur hartgesottene Euroturbos nehmen die existenzielle Krise der EU nicht wahr. Positiv aber ist, dass solch ­klare Rede aus dem Munde des obersten EU-Verantwortlichen zu hören ist. Die richtige Diagnose ist keine Garantie für die Heilung, aber doch eine gute Voraussetzung.»

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