Johann Schneider-Ammann über den legendären britischen Premier
«Ich habe mit Churchill Englisch gelernt»

Sein Vater machte Johann Schneider-Ammann zum Fan des britischen Politikers. Der Bundesrat ist überzeugt: Noch heute können die Schweizer viel von ihm lernen.
Publiziert: 18.09.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 01:43 Uhr
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Schneider-Ammann am Donnerstag vor der Churchill-Gedenktafel in der Uni Zürich.
Foto: Sabine Wunderlin
Simon Marti und Marcel Odermatt

Ob sich Jean-Claude Juncker (61) der doppelten Ironie seiner Visite bewusst ist? Morgen Montag besucht der EU-Kommissionspräsident Zürich. Gemeinsam mit Bundespräsident Johann Schneider-Ammann (64) will der Luxemburger der legendären Zürcher Rede Winston Churchills gedenken. 1946 rief der britische Kriegs­premier in der Aula der Uni Zürich einem begeisterten Publikum zu: «Let Europe arise!» (Lasst Europa entstehen!)

70 Jahre später besucht nun also Juncker die Schweiz – die ­weniger denn je etwas von der Europäischen Union wissen will –, um den berühmtesten Staatsmann eines Landes zu feiern – das im Sommer entschieden hat, Brüssel den Rücken zu kehren.

SonntagsBlick: Herr Bundespräsident, Sie ­verehren den britischen Kriegspremier seit jungen Jahren. Welchen Bezug haben Sie zu Churchill?
Johann Schneider-Ammann:
Zu meinem 20. Geburtstag schenkte mir mein Vater Churchills gesammelte Werke, in Deutsch und Englisch. Ich habe quasi mit ihm Englisch gelernt, denn mein Vater prüfte jeweils, ob ich die Passagen verstanden hatte.

Vor siebzig Jahren: Der Staatsmann gönnt sich in Zürich eine seiner legendären Zigarren.
Foto: Daniel Kellenberger

Also hat Ihr Vater Ihnen Churchill nähergebracht?
Ja. Er leistete als junger Mann ­Aktivdienst und war von Churchill ungemein beeindruckt. Er wollte ihn auch immer wieder hören. Seine Reden gehörten zum «Notvorrat» meines Vaters – auch im Alter mit den Hörbüchern.

Suchen Sie noch immer Rat in Churchills Schriften?
Die Bücher stehen brav aufgereiht im Regal. Leider habe ich heute kaum noch Zeit, darin zu lesen. Am Wochenende habe ich einige Minuten in einer kurzen Biografie geblättert, für mehr reichte es nicht.

Was können wir Nachgeborenen von Churchill lernen? Hat er noch eine Bedeutung für das 21. Jahrhundert?
Es gibt Grundprinzipien, die an keine Epoche gebunden sind. Churchills Wille, frei zu bleiben, sein Land zu verteidigen, auch wenn ihm die deutschen Raketen praktisch um die Ohren flogen, beeindruckt mich bis heute. Seine Haltung wirkt weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus. Eine Haltung übrigens, die er mit einer zweiten historischen Figur teilt, die mich sehr beschäftigt: der finnische Marschall Mannerheim, der gegen die sowjetische Übermacht gekämpft hat.

Was wäre aus Europa geworden, wenn Winston Churchill und Grossbritannien keinen Widerstand gegen Hitler-Deutschland geleistet hätten?
Mit jedem am englischen Widerstand aufgeriebenen Flugzeug oder Panzer fehlte den Deutschen eine Waffe für Angriffe auf andere Länder, vielleicht auch auf die Schweiz. Ich will 70 Jahre später nicht spekulieren. Aber die Wunden Europas wären ohne ihn noch grösser geworden. Und sicher hat Churchill wesentlich zu unserer Unversehrtheit beigetragen. Der ganze Kontinent verdankt ihm viel.

Kein ausländischer Staatsgast wurde in der Geschichte der Eidgenossenschaft mit grösserer Begeisterung gefeiert als Winston Churchill. Warum war das so? Hatten die Schweizer ein schlechtes Gewissen, weil sie den Krieg unbeschadet überstanden hatten?
Churchill symbolisierte Festigkeit, unbegrenzten Freiheitsdrang, Widerstand und Siegeswillen. Was für die Engländer gut war, war für die Schweiz ein Leuchtturm. Und mit seiner Zürcher Rede hat Churchill der Schweiz und Zürich eine weltmännische Stellung in der Staatengemeinschaft verschafft. Keine Angst, Aufrechterhalten der Souveränität – genauso, wie wir es heute auch tun!

Churchill propagierte in seiner Rede die «Vereinigten Staaten von Europa». Heute scheint der Kontinent zerstritten. Warum hat sich die Vision dieses Ausnahmepolitikers nicht rea­lisieren lassen?
Europa ist tatsächlich in einer sehr schwierigen Situation, es gibt viele Zerreissproben. Mitglieder der Union würden sagen: Es braucht Zeit, viel Zeit, um den Kontinent wieder aufzurichten. Die Staatengemeinschaft ist ein Jahrhundert-bauwerk. Aber es braucht auch Lösungen für die aktuellen Probleme.

Was würde Winston Churchill über den heutigen Zustand des Kontinents sagen? Und zu der Tatsache, dass sowohl die Schweiz wie nun auch die Briten mit den «Vereinigten Staaten von Europa» nichts mehr zu tun haben wollen?
Ob Churchill den heutigen Zustand der Spannungen infolge von Krisen, unterschiedlichen Interessen und Geschwindigkeiten gar nie hätte aufkommen lassen? Die europäische Einheitswährung Euro zum Beispiel wurde wirtschaftlich ganz unterschiedlichen Ländern übergestülpt und ist für viele ein Problem. Und sicherlich ist es auch ein Faktor, dass sich ­viele Menschen Sorgen um ihre Identität, um ihre Heimat machen. Aber ich ­teile Ihre Einschätzung nicht: Die Schweiz will auch in ­Zukunft ein unabhängiges Land sein – aber mit Europa als engem Partner.

Beneiden Sie den Freigeist ­Churchills manchmal? Er konnte Dinge öffentlich sagen, für die ein heutiger Politiker zum Teufel gejagt würde.
Ja, er hatte sich seine Ausnahmestellung hart erarbeitet und das auch feindselig zu spüren bekommen. Würde bringt Bürde.

Am Montag besucht Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission, die Universität Zürich, um Churchill und seiner Rede zu gedenken. Die Europäische Union stecke in ­einer existenziellen Krise, sagte er diese Woche. Stimmen Sie ihm zu?
Die Arbeitslosigkeit in Europa ist erschreckend. Die Lösung für die Flüchtlingskrise ist noch nicht ­gefunden. Hören wir morgen, wie Jean-Claude Juncker die Lage einschätzt! Niemand kann dies besser als er.

Die EU pocht auch nach dem Vorschlag der Staatspolitischen Kommission (SPK) zur Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) auf ein Rahmenabkommen mit der Schweiz. Das aber wäre hierzulande kaum mehrheitsfähig. Werden Sie das Juncker klar­machen?
Wir werden ein offenes Gespräch führen. Ich gehe davon aus, dass er unsere innenpolitischen Bedürfnisse wahrnimmt. Und ich werde Jean-Claude Juncker unsere Lösungsbereitschaft, aber auch unsere Forderungen erneut klarmachen. Er kennt die Schweiz gut.

Glauben Sie, mit dem Inländervorrang light, den die SPK des Nationalrats vorschlägt, gelingt die Umsetzung der MEI – ohne Gefahren für die Personenfrei­zügigkeit?
Das wird die anstehende Debatte im National- und Ständerat zeigen.

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