Die Genferin Céline Amaudruz (38) war am Mittwoch die erste Parlamentarierin, die mit ihrem Namen hinstand und sexuelle Belästigung im Bundeshaus anprangerte. «Erst kürzlich hat ein Parlamentarier mir gegenüber unangemessene Äusserungen gemacht, die mehr waren als ein simpler Flirt», so die SVP-Vizepräsidentin. Es gebe mehrere Kollegen, mit denen sie nicht mehr allein Lift fahre.
Jetzt ist sie nicht mehr die einzige. «Auch ich war schon Belästigungen ausgesetzt, sowohl verbal als auch physisch», sagt die grüne Genfer Nationalrätin Lisa Mazzone (29) zu BLICK. An Anlässen am Rande der Session komme es immer wieder zu Situationen, «die für junge Frauen sehr schwierig sein können».
Die jungen Frauen brechen ein Tabu
Namen wollen weder Amaudruz noch Mazzone nennen, die Art des Übergriffs konkretisieren sie nicht. Und doch haben sie ein Tabu gebrochen. Denn spricht man mit National- und Ständerätinnen, bekommt man einiges zu hören: Von «sexuellen Raubtieren» ist die Rede, die Frauen «nur als ein Stück Fleisch» ansehen würden.
Von Händen, die zuerst auf der Schulter liegen und dann abwärts wandern. Die Zeitung «Le Temps» berichtete von einem Fall, bei dem eine dieser Hände unter den Rock einer Politikerin glitt. Nur: Bisher wagte keine der Frauen, mit Namen öffentlich zu machen, was ihr widerfahren ist.
Mit ihrem Schweigen senden sie ein schlechtes Signal
Dabei: Wer, wenn nicht die gewählten Volksvertreterinnen, sollte aufstehen? Wenn nicht mal sie sich zur Wehr setzen, wie soll zum Beispiel dann eine Angestellte, die abhängig ist von ihrem Chef, den Mut dazu fassen? Sie wurden gewählt – von Frauen, von Männern –, um die Verhältnisse in diesem Land zu ändern. Auch die zwischen den Geschlechtern. So verständlich ihr Schweigen ist – die Politikerinnen senden ein schlechtes Signal aus.
Bis jetzt. Denn der Skandal um den Walliser CVP-Nationalrat Yannick Buttet (40), der seine Ex-Geliebte stalkte und einräumt, dass er sich gegenüber Politikerinnen unangebracht verhielt, hat etwas in Gang gesetzt. Selbst Bundespräsidentin Doris Leuthard (54) ist entsetzt. «Wenn das stimmt, hat Herr Buttet ein Problem», sagte sie dem Westschweizer Fernsehen.
Sexismus ist Hintergrundrauschen
Mazzone, seit zwei Jahren im Parlament, empfindet die Wandelhalle als frauenfeindlich. «Es herrscht generell ein Macho-Klima», sagt sie. «Der Sexismus ist wie ein Hintergrundrauschen.» Das berichten auch andere Frauen. Anzügliche Bemerkungen seien an der Tagesordnung – zur Kleidung, zu den Beinen, zu den Brüsten.
Doch es ist mehr als das. Mazzone: «Es gibt einzelne Männer, die die Grenzen unmissverständlich und gravierend überschreiten.» Schrecklicher Beleg dafür: Als die ehemalige SP-Nationalrätin Maria Bernasconi (62) in einer Kommissionssitzung Bauernvertreter kritisierte, drohte ihr ein Westschweizer FDP-Nationalrat mit Vergewaltigung. Das erzählte die Genferin der «Luzerner Zeitung».
Bis heute hat Bernasconi geschwiegen – wie so viele andere. Auch SP-Nationalrätin Yvonne Feri (51) brauchte Jahre, um öffentlich zu machen, dass ihr ein Politiker zu nahe kam. Dennoch kann sie das Schweigen der Kolleginnen verstehen: «Natürlich haben wir eine Vorbildfunktion. Doch in der Wandelhalle wie auch in der Öffentlichkeit gilt man schnell als Zicke oder wird belächelt. Das wollen sich viele nicht antun.»
Selbst schuld oder zu prüde
Vor einigen Wochen berichtete sie in der Sendung «Rundschau», wie sie einst aus heiterem Himmel geküsst wurde. Danach hagelte es Kritik. Sie sei «sicher selbst schuld, etwa wegen aufreizender Kleidung», hiess es. «Oder auf der anderen Seite: Ich sei eben zu prüde.» Und das ist nicht alles: Die Frauen laufen Gefahr, wegen Verleumdung angezeigt zu werden, wenn sie einen Mann namentlich nennen. Andere Wege gibt es kaum. «Zu wem sollte man denn gehen?», fragt Feri. «Soll man sich beim Fraktionschef der jeweiligen Partei die Blösse geben? Mit dem Risiko, dass man nicht mehr ernst genommen wird?»
Feri ist darum für eine neutrale Stelle, bei der Frauen sich melden können. Nicht nur Politikerinnen, sondern auch Mitarbeiterinnen der Parlamentsdienste, die vor den Übergriffen der Männer ebenfalls nicht sicher sind.
Das mag helfen. Doch nur dann, wenn die Frauen sich trauen und die Belästiger auch melden. National- und Ständerätinnen müssen vorangehen. Und einlösen, wofür sie gewählt wurden. Die Verhältnisse zu ändern.