Jede 4. Arbeitskraft kommt aus Italien. Ohne sie geht nichts mehr im Tessin
Tessin – Kanton der Grenzgänger

Im Tessin führt die starke Zuwanderung aus Italien zu einer immer grösseren Anzahl von Arbeitskeitskräften aus Norditalien. Aus Angst vor Lohndumping und Jobverlust werden die Massnahmen gegen die Grenzgängerbeschäftigten immer radikaler.
Publiziert: 23.06.2015 um 20:01 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2018 um 03:57 Uhr
Von Christoph Vuille und Matthias Halbeis

Die Grenzgänger. Kein Thema beschäftigt die Tessiner zurzeit so stark wie die Arbeitskräfte aus Norditalien: Dort ist ihr Kanton die erste Adresse für alle, die Jobs suchen – und vor allem mehr verdienen wollen als in Italien. Die Attraktivität der Schweizer Sonnenstube hat sich mit dem starken Franken noch verstärkt.

Die Massnahmen, die man im Tessin aus Angst vor Lohn­dumping und Jobverlust umzusetzen versucht, werden darum immer radikaler: Letztes Jahr wollte die Gemeinde Ligornetto den Ortskern für den Verkehr sperren. Die Einwohner hatten genug von den Autokolonnen der Grenzgänger, die sich morgens und abends durchs Dorf quälten.

Der Tessiner Staatsrat Claudio Zali lässt den Verkehr zählen, illegale Parkplätze absperren und möchte am liebsten alle Parkplätze durch Abgaben verteuern. So will er den «Frontalieri», wie die Grenzgänger im Tessin heissen, das Pendeln mit dem Auto vermiesen.

Dabei ist Staatsrat Zali kein Ökofanatiker, sondern Mitglied der Lega. Der Partei, die sich sonst gegen Eingriffe in die persönliche Freiheit wehrt.

Und schliesslich stimmte am letzten Abstimmungssonntag die Mehrheit der Tessiner einem kantonalen Mindestlohn zu. Auch das ein deutliches Zeichen in einem sonst klar bürgerlich stimmenden Kanton.

Da wirkt die Statistik, die das Staats­sekretariat für Wirtschaft (Seco) gestern veröffentlicht hat, im Tessin wie Balsam. Sie zeigt schwarz auf weiss, wie viele Grenzgänger inzwischen im Tessin arbeiten. Und das sind wirklich viele: Etwas mehr als jeder vierte Büezer ist ein Grenzgänger. 62'400 Personen kamen 2014 jeden Tag aus Italien zum Arbeiten ins Tessin. Ohne die Grenzgänger würde im Tessin an vielen Orten das Licht ausgehen.

Gegenüber anderen Grenzregionen hat im Tessin aber auch die Beschäftigungsquote der 25- bis 64-Jährigen am stärksten zugenommen, und die Arbeitslosenquote ist nur marginal gewachsen. Mit anderen Worten: Im Tessin profitiert die Bevölkerung von den Grenzgängern eben auch – weil dank ihnen die Wirtschaft brummt.

Das gilt genauso für andere Grenzregionen. In den Kantonen Genf und Basel-Stadt kommt fast jeder fünfte Büezer jeden Tag aus dem Ausland zur Arbeit. Weit vorne liegen auch Jura, Basel-Landschaft, Schaffhausen und Neuenburg. Fast drei Viertel aller rund 300'000 Grenzgänger arbeiten in diesen sieben Kantonen – die meisten auf dem Bau oder im Gewerbe.

Der starke Franken sorgt dafür, dass das Arbeiten in der Schweiz für Ausländer auf absehbare Zeit attraktiv bleibt. Seco und Gewerkschaften betonen deshalb die besondere Bedeutung flankierender Massnahmen – gerade in den Regionen mit den vielen Grenzgängern.

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