BLICK: Herr Ziegler, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Bilder von Flüchtlingstragödien wie in Österreich sehen?
Jean Ziegler: Es macht mich traurig, aber auch wütend. Europa verletzt das Völkerrecht, indem es Tausende Verfolgte daran hindert, ein Asylgesuch zu deponieren. Es ist ein universelles Menschenrecht, dass alle aus rassistischen, politischen oder religiösen Gründen Verfolgten jenseits ihres Heimatlands ein Gesuch auf Schutz und Asyl stellen können. Praktisch alle Staaten haben die Uno-Flüchtlingskonvention von 1951 unterzeichnet. Doch die Menschen ertrinken und ersticken an Europas Grenzen. Es ist ein Skandal, dass die EU nicht gegen Ungarn und dessen Präsidenten Viktor Orban vorgeht.
Sie sprechen vom Grenzzaun, den Orban gegen Flüchtlinge baut.
Ja, dieser faschistische Zaun ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Viktor Orban gehört vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Aber vielleicht sind ihm viele EU-Funktionäre dankbar, dass er versucht, die Flüchtlinge aufzuhalten. Sie realisieren nicht: Die Menschen flüchten aus höchster Not. Europa hat 550 Millionen Einwohner und kann noch viele Menschen aufnehmen.
In der Schweiz fordern linke Aktivisten, dass Menschen via Internet ein Asylgesuch stellen dürfen.
Das ist ein Gebot der Vernunft. Es geht nicht darum, automatisch alle Gesuchsteller aufzunehmen, unsere Souveränität bleibt gewahrt. Aber wir müssen allen Verfolgten ihr Menschenrecht auf Asyl gewähren. Bei positiven Entscheiden würden die Flüchtlinge eine Einreiseerlaubnis erhalten und mit normalen Transportmitteln in die Schweiz kommen.
Die kleine Schweiz soll also mal wieder die ganze Welt retten, Herr Ziegler. Ein solches Vorgehen müsste die ganze EU mittragen.
Natürlich wäre das wünschenswert. Die Schweiz muss aber ihrer Verantwortung als Sitzland des Uno-Menschenrechtsrats und des Uno-Hochkommissariats für Flüchtlinge gerecht werden und eine Pionierrolle einnehmen. Justizministerin Simonetta Sommaruga macht eine hervorragende Arbeit, aber sie muss jetzt handeln.