Ein Bild, das Europa verändert hat. Eine Geschichte, die Millionen zum Handeln bewegt hat. Eine Tragödie, die das Schicksal von Hunderttausenden plötzlich begreifbar machte.
Aber ist die Geschichte des ertrunkenen Aylan (†3) etwa falsch? War es ganz anders? Ist Europas neue Hilfsbereitschaft die Folge einer Medienlüge?
Eine wachsende Zahl Blogger und Politiker am rechten Rand glauben genau dies. Und verbreiten Andeutungen, Vorwürfe und Interviewfetzen, die in etwa folgende Geschichte erzählen: Der Syrer Abdullah Kurdi lebte seit mindestens drei Jahren sicher und bequem in der Türkei. Seine Reise übers Meer nach Europa, die seine Buben Aylan und Galip (†5) und seine Frau Rehan (†35) das Leben kostete, trat er bloss an – weil er sich seine Zähne machen lassen wollte!
Das klingt plötzlich nicht mehr sympathisch. Aber woher kommt diese Version? Kronzeugin ist niemand anderes als Abdullas Schwester Tima in Kanada. Sie gab am kanadischen TV-Sendern eine Medienkonferenz, in der sie die Vorgeschichte und die Tragödie selber erzählte, aus eigener Anschauung – denn sie hatte ihren Bruder und dessen Familie in der Türkei besucht – und aus Gesprächen mit Abdullah.
Und tatsächlich, an einer Stelle (ab Minute 5:00) wird sie gefragt, wann sie sich entschieden habe, Geld zu schicken – und sagt: «Die Sache ist, Abdullah hat keine Zähne. Ist eine lange Geschichte. Ich wollte ihm helfen, die Zähne zu reparieren, aber das kostet 14’000 Dollar oder mehr. Er braucht ja völlig neue Implantate.» Die Geldtransfer-Firma Western Union schicke aber nicht soviel Geld auf einmal, nur kleine Tranchen über Drittpersonen. «Da kam mein Daddy auf die Idee: Warum gehen sie nicht nach Europa? Dort haben seine Kinder eine bessere Zukunft. Und da kann er ja die Zähne machen lassen.»
Der Vorschlag stammt also vom gemeinsamen Vater in Syrien. Die Zähne werden zur völligen Nebensache. Doch in ihrer Offenheit liefert Tima jene Sätze, die nun in einem inzwischen x-fach vervielfältigten Kurz-Clip durch Youtube geistern. Mit der hässlichen Einleitungszeile: «Syrischer Bub ertrank, weil sein Vater neue Zähne wollte.» Eine grausame Verdrehung dessen, was Tima Kurdi sagt.
Trotzdem: Lebten die Kurdis nicht bereits in Sicherheit? Auch dazu sagt Fatima einiges (ab 9:50). Bis vor einem Jahr war nur Abdullah in der Türkei, mit der Familie seines ebenfalls geflohenen Bruders Mohammad. Fatima besuchte die beiden. «Das veränderte mein Leben», sagt sie unter Tränen. Selber dort zu sein, sei etwas ganz Anderes, als von Kanada aus zu telefonieren. «Ihre Lage war sehr übel. Ich half ihnen, eine Unterkunft zu mieten.» Sie habe bei den Nachbarn um Kleider, Matratzen und Möbel betteln müssen.
Dann stürmte der IS die Umgebung von Kobane, jener syrischen Stadt, in der Rehanna mit den Buben gewartet hatte. Sie konnten fliehen, sie schafften es zu Abdullah – und sassen dann mit ihm dort fest. Ohne Papiere, ohne Visa, ohne Aussicht auf Asyl in Kanada.
Es war ein tödlicher Fehler, den Schleppern zu vertrauen. Und Rehanna konnte nicht schwimmen, die Buben sowieso nicht. Das Resultat ist ein zerstörte Familie – und ein Foto, das Europa aufgerüttelt hat. Oder ist auch das eine Lüge?
Dieselben Verdreher, die Abdullahs Reise zu einem Trip zum Zahnarzt ummodeln, behaupten nämlich: Der kleine tote Aylan wurde in Wahrheit angespült zwischen den Steinen. Und dann von einem Helfer an den Strand getragen, weil man ihn dort besser – und effektvoller – fotografieren konnte. Der Zürcher SVP-Politiker Claudio Zanetti verbreitet diesen Verdacht über Twitter:
Auch hier reicht es bloss, genau hinzuschauen. Die Schuhe der Buben sind nicht dieselben. Der Bub, der tot zwischen den Steinen liegt, gehört aber tatsächlich zu Aylan. Es ist sein Bruder Galip.
Die Reise der Kurdis ist zuende. Viele begleiteten Aylan auf seinen letzten Gang. Die Lügen aber haben sich gerade erst auf den Weg gemacht.