Inselspital-Direktor Uwe E. Jocham warnt
«Geht das so weiter, ist die Triage nicht mehr vermeidbar»

Im ganzen Land stehen Spitäler vor dem Horror-Entscheid, wer im Notfall zuerst behandelt wird. Erstmals warnt jetzt der Direktor eines Schweizer Krankenhauses vor dieser Corona-Notlage.
Publiziert: 28.11.2021 um 11:15 Uhr
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Aktualisiert: 28.11.2021 um 11:23 Uhr
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«Sollten sich die Zahlen weiter so entwickeln, wird die Triage nicht mehr vermeidbar sein», warnt Uwe E. ­Jocham, Direktor des Berner Insel­spitals.
Foto: keystone-sda.ch
Tobias Marti und Sven Zaugg

Triage ist das Wort, das hierzulande noch niemand auszusprechen wagt. Triage bedeutet, dass Ärzte über Tod oder Leben entscheiden, wenn der Platz auf der Intensivstation nicht mehr reicht. Es bedeutet, dass Menschen sterben, die hätten überleben können. Und es bedeutet, dass die Politik bei der Eindämmung der Pandemie Fehler gemacht hat.

Ohne das Horrorwort zu verwenden, sprach Bundesrat Alain Berset am Mittwoch über genau diese härteste aller medizinischen Entscheidungen. Die Kantone sollten «die Spitalstrukturen auf eine erneut sehr hohe Belastung vorbereiten», sagte Berset. «Im Wissen, dass die Möglichkeiten dazu beschränkt sind.»

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Massnahmen sollen weiterhin eingehalten werden

Von der Front kommen bereits erste Warnungen. «Sollten sich die Zahlen weiter so entwickeln, wird die Triage nicht mehr vermeidbar sein», warnt Uwe E. Jocham, Direktor des Berner Inselspitals.

Jocham appelliert an die Bevölkerung: Es sei wichtig, dass sich nun alle an die Massnahmen hielten – Impfen und Boostern. Im Inselspital mangle es bereits beim Normalbetrieb an Personal – nicht auszudenken, wenn die Intensivstation ausgebaut werden müsste.

Zahlen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) zeigen, wie stark Spitäler unter Druck stehen: Mussten am 1. November noch 111 Patienten wegen Covid intensiv behandelt werden, stieg ihre Zahl bis Redaktionsschluss auf 190. Corona-Kranke nehmen derzeit 22 Prozent der Kapazitäten auf Intensivstationen in Anspruch. In einzelnen Spitälern mussten bereits nicht zwingende Operationen verschoben werden.

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Das Ganze erinnert an die zweite Welle vor einem Jahr. Nach Angaben der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) müssen Patienten bereits in andere Spitäler inner- und ausserkantonal verlegt werden.

Es wird ein schwieriger Winter, betonte auch Taskforce-Chefin Tanja Stadler diese Woche. «Es ist mit 30'000 Hospitalisierungen zu rechnen, wenn wir wie bisher weiterfahren und keinen signifikanten Impffortschritt schaffen.» Aus epidemiologischer Sicht seien Bremsmanöver sofort notwendig.

Tatsache ist aber auch, dass die Impfung vor schweren Verläufen schützt: Nur zwei von 61 Patienten auf der kantonalen Intensivstation waren doppelt geimpft, so die Aargauer Gesundheitsdirektion, die dies seit dem 21. August nachzählt.

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Steigerung der Intensivbetten unrealistisch

Bereits seit Beginn der Pandemie sind die Intensivbetten der Flaschenhals des Gesundheitswesens. Spitäler im ganzen Land blicken daher bange auf die kommenden Wochen. So auch das Universitätsspital Zürich. Dort belasten Corona-Patienten die Intensivstationen wieder massiv, sagt Sprecherin Barbara Beccaro. Das hätte Auswirkungen auf den Regelbetrieb, auch das Aufschieben von Operationen könnte wieder zur Diskussion stehen.

«Die Entwicklung der Zahlen bereitet uns ernsthafte Sorgen», warnt auch Daniel Germann. Der Chef des Kantonsspitals St. Gallen appelliert an den Bundesrat, nun koordinierte Massnahmen zu beschliessen. «Wir sind vorbereitet, aber die Vorbereitung hat ihre Grenzen», sagt Germann. Wäre eine noch grössere Anzahl Covid-Patienten darauf angewiesen, sei eine Steigerung der Intensivpflege-Plätze unrealistisch. «Dies würde zulasten anderer Patientengruppen gehen», so Germann. Was wiederum die Widerstandsfähigkeit des Personals weiter schwäche.

Spitalpersonal geht auf dem Zahnfleisch

Mit anderen Worten: Das Spitalpersonal steht nach zwei Jahren Pandemie am Rand der totalen Erschöpfung. «Die anhaltende Belastung führt zu Abnützungserscheinungen und Absenzen», verlautet aus dem Aargauer Gesundheitsdepartement. Das Fachpersonal sei schon sehr lange stark beansprucht und könne nicht mehr für Sondereinsätze aufgeboten werden.

Zwar hätten die Spitäler sogar im Ausland nach Verstärkung gesucht, damit seien aber lediglich Abgänge kompensiert worden. Um neue Reserven zu schaffen, reichte dies nach Aargauer Erfahrungen nicht mehr aus.

Es sind aber auch kämpferische Töne zu hören – oder wie es Vincent Ribordy, Direktor des Freiburger Spitals (HFR) ausdrückt: «Wir haben die erste und zweite Welle bewältigt und werden auch diese bewältigen.»

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