Innenminister Alain Berset über die Zukunft Europas
«Direkte Demokratie würde der EU guttun»

Bundesrat Alain Berset (44) sieht im Brexit ein Zeichen grassierender Unsicherheit. Zugleich verzögere das Ausscheiden der Briten die Suche nach einer Lösung bei der Umsetzung der Masseneinwanderungs-Initiative weiter.
Publiziert: 07.08.2016 um 13:23 Uhr
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Aktualisiert: 04.10.2018 um 20:20 Uhr
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Bundesrat Alain Berset am Filmfestival Locarno.
Foto: Philippe Rossier
Interview: Sermîn Faki und Simon Marti

SonntagsBLICK: Herr Bundesrat, Sie haben gestern den deutschen Aussenminister Frank-Walter Steinmeier getroffen. Wir raten mal: Sie haben auch über die Masseneinwanderungs-Initiative gesprochen.

Alain Berset: Das war natürlich ein Thema, so wie bei allen Treffen des Bundesrats mit europäischen Politikern seit dem Februar 2014. Unsere Nachbarn kennen die Situation gut – und haben Verständnis für die Schweiz. Weder François Hollande noch Angela Merkel noch Matteo Renzi werfen uns Rosinenpickerei vor. Denn sie wissen, dass eine solche Abstimmung in ihren Ländern wohl ähnlich ausgehen könnte.

Also können wir mit einer Lösung rechnen?

Wir müssen ehrlich sein: Einen Weg mit der EU zu finden, wird sehr schwierig. Aber klar: Der Bundesrat hat einen Verfassungsauftrag erhalten und verhandelt nun intensiv für eine Lösung.

Eigentlich muss bis Ende Jahr eine Lösung auf dem Tisch liegen. Nach dem Brexit scheint das unwahrscheinlich. Brauchen wir mehr Zeit?

In der Tat hat die Brexit-Abstimmung die Ausgangslage stark verändert. Die EU braucht nun wahrscheinlich auch etwas Zeit. Unter anderem, um herauszufinden, in welche Richtung es mit Grossbritannien gehen wird. Diese Verzögerung wird sich mit Sicherheit auf die Schweiz auswirken.

Steinmeier wurde der Europapreis für politische Kultur verliehen, Sie haben die Laudatio gehalten. Was zeichnet den deutschen Aussenminister aus?

Er ist ein politisches Schwergewicht, besonnen, klug, bodenständig, mit klaren Vorstellungen. Solche Politiker braucht Europa, denn es herrscht grosse Verunsicherung. Mit bösen Folgen: Beim Brexit hat sich diese Angst Bahn gebrochen.

Angst? Der Brexit war ein Votum gegen die EU und das englische Establishment.

Nein, den Brexit bloss als Misstrauensvotum gegen die EU zu verstehen, ist falsch. Er ist viel mehr als das. In wenigen Jahrzehnten haben wir das Ende der Sowjetunion, eine fortschreitende Globalisierung, technische Entwicklungen wie Internet und Handys, die Finanzkrise oder den Arabischen Frühling erlebt. Auch Europa ist schnell gewachsen. Solche rasanten Umwälzungen und das Verschwinden von Gewissheiten verunsichert viele.

Wenn die Krise der EU eine Folge dieser Verunsicherung ist: Was kann man dagegen tun?

Wir müssen die Ursachen dieses Unbehagens analysieren und diese entschieden bekämpfen. Denn sonst gewinnen jene, die der Schweizer Historiker Jacob Burckhardt einst die «schrecklichen Vereinfacher» genannt hat.

Wie bekämpft man die Ursachen?

Mit sozialer Sicherheit und Zukunftsperspektiven für alle. Auch die Schwächeren sollen von der internationalen Verflechtung profitieren. Bei der Migrations- oder der Öffnungspolitik heisst es, umsichtig und pragmatisch sein. Jede Abgrenzung nach aussen kann irgendwann zu Ausgrenzungen im Innern führen. Und dann wird es gefährlich. Schauen Sie sich um: Frankreich, Österreich, aber auch die USA, das sind hoch polarisierte, tief gespaltene Gesellschaften. Rechtspopulistische Parteien legen massiv zu. Wir Schweizer dürfen diesen Weg nicht einschlagen, sondern müssen unsere gut integrierte Gesellschaft pflegen.

Aber das Phänomen einer rechtspopulistischen Partei ist der Schweiz wohlbekannt. Die SVP hat ja schon beinahe europäischen Modellcharakter.

Ja, wir haben die SVP – aber unsere Gesellschaft ist nicht gespalten wie in manch anderem Land. Etwa dank des Föderalismus und insbesondere unserer direkten Demokratie.

In den letzten Jahren gab es Vorlagen, welche die Schweiz sehr wohl gespalten haben: die Masseneinwanderungs-Initiative oder das Minarett-Verbot.

Natürlich gab es auch in der Schweiz immer wieder heftige Auseinandersetzungen. Zu einer Spaltung hat das aber nie geführt, weil wir wissen, wie man Debatten führt und wie man sie beendet. Gewisse Kreise haben Initiativen wohl genutzt, um ein Zeichen zu setzen. Aber die Annahme einer Initiative ist kein Unfall! Man hat manchmal vielleicht vergessen, dass eine Initiative bedeutet, die Verfassung zu ändern.

Wer hat das vergessen? Die Stimmbevölkerung?

Eine Initiative ist keine Umfrage, um seine Unzufriedenheit auszudrücken, sondern ein politischer Entscheid. Gegen eine Spaltung hilft auch, dass wir alle drei Monate über wichtige Themen abstimmen, wobei nicht immer dieselbe Mehrheit über dieselbe Minderheit gewinnt.

Wenn unsere Institutionen uns vor der Polarisierung schützen: Sollte die Schweiz ein Vorbild für Europa sein?

Mehr direkte Demokratie würden der EU guttun, das ist keine neue Erkenntnis. Das haben auch die Gründerväter der EU so gesehen. Nur steckt die direkte Demokratie nicht in den Genen der europäischen Länder. Aber das kann sich ändern: In der Schweiz wurden direktdemokratische Instrumente nach grossen innenpolitischen Krisen eingeführt: Das Verfassungsreferendum 1848 nach einem Bürgerkrieg, die Initiative 1891 nach dem Kulturkampf, das Proporzwahlrecht 1919 nach dem Generalstreik.

Sie meinten vorhin, dass Abschottung gefährlich sei. Sehen Sie Anzeichen einer solchen Abschottung als Folge der jüngsten Terroranschläge in Europa?

Der Papst hat kürzlich etwas sehr Wichtiges gesagt: Es sei ein Riesenfehler, jetzt von einem Religionskrieg zu sprechen. Wir müssen alles tun, um den Terror zu stoppen. Aber wir dürfen auf keinen Fall einfach alle Muslime unter Generalverdacht stellen. Es braucht einen Ausgleich zwischen Freiheit und -Sicherheit. Im Wissen, dass es keine absolute Sicherheit gibt.

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