In Mühleberg wird das erste AKW der Schweiz stillgelegt
Abbruchreif

Beim Ja zum Atomausstieg muss Mühleberg 2017 vom Netz. Nur: Wie legt man eigentlich so ein AKW still?
Publiziert: 16.11.2016 um 20:49 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 19:52 Uhr
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Am 20. Dezember 2019 will die BKW-Gruppe den Stecker ziehen. «Die Kernenergie hat keine wirtschaftliche Zukunft», sagte Suzanne Thoma, die Chefin des Betreibers, in einem Interview mit der «Schweizer Illustrierten».
Foto: Stefan Bohrer
Adrian Meyer (Text) und Stefan Bohrer (Fotos)

Tief unten in einer Senke an der Aare hockt es. Verborgen durch den Wald an der Böschung. Nur manchmal lugt etwas zwischen den Herbstblättern hindurch: der rot-weiss bemalte Kamin des AKW Mühleberg.

Es hat sich jahrzehntelang gut versteckt. Nun soll es ganz verschwinden.

Am 20. Dezember 2019 will die BKW-Gruppe den Stecker ziehen. «Die Kernenergie hat keine wirtschaftliche Zukunft», sagte Suzanne Thoma, die Chefin des Betreibers, in einem Interview mit der «Schweizer Illustrierten».

47 Jahre nach dem Start 1972 geht Mühleberg vom Netz. Bei einem Ja zur Atomausstiegs-Initiative wäre bereits 2017 Schluss.

Am Stammtisch des Gasthofs Traube im Dorfkern rufen sie aus, wenn das Thema aufkommt. Der grösste Frust sei, dass sie wieder mehr Steuern zahlen müssten, wenn die Erträge aus der Liegenschaftssteuer wegfallen. Zwar sei das AKW nicht mehr so das Thema. «Mir hei ja scho mängs Gschtürm gha wägem», sagen sie, vor allem nach Fukushima. Aber dass die Grünen so hetzen mit dem Atomausstieg, passt ihnen gar nicht: «Es geht uns alles zu schnell!»

Im Innern des Kraftwerks deutet nichts darauf hin, dass hier bald die Lichter ausgehen. Die Turbinen röhren auf voller Leistung. Sie produzieren Strom für 400'000 Menschen.

Im AKW arbeiten 350 Angestellte. Ihre Erfahrung ist für die Stilllegung essenziell: Sie wissen, wo was wie montiert ist. Neben der normalen Arbeit werden sie derzeit auf den Rückbau vorbereitet. «Der anfängliche Schock über die Stilllegung ist einem Pioniergeist gewichen», sagt Philipp Hänggi (48), Leiter Nuklear bei BKW. «Mit Ausnahme von zwei Personen haben alle Mitarbeiter das neue Jobangebot für die Rückbauphase angenommen.»

Max Wittwer (65) will bei der Stilllegung lieber nicht mithelfen. Seit bald 45 Jahren arbeitet er im AKW, so lange wie kein anderer. Ende 2017 ist Schluss. «Das Werk war mein Leben, da ist Herzblut drin», sagt der Fachspezialist. «Aber den Rückbau, den mache ich nicht mehr mit.»

1972 fing Wittwer in Mühleberg BE an. «Ich erlebte die besten Jahre, stets ging es vorwärts, wir hatten gute Löhne», sagt er. «Ja nu, jetzt sind wir halt auf dem absteigenden Ast.» Den Mitarbeitern merke man es an, man müsse sie nun um einiges stärker motivieren. «Früher, da waren wir wie eine Familie. Der Anti-AKW-Protest hat uns zusammengeschweisst.»

Voraussichtlich 2018 dürfte Bern die Stilllegungsverfügung erlassen

Das Stilllegungsgesuch der BKW, letztes Jahr beim Bund eingereicht, wird derzeit eingehend geprüft. Voraussichtlich 2018 dürfte Bern die Stilllegungsverfügung erlassen. Laut BKW-Nuklearleiter Hänggi sind die juristischen und politischen Rahmenbedingungen in der Schweiz herausfordernder als das technische Wissen darüber, wie man ein AKW stilllegt: «Unser AKW ist eines ab Stange, es gibt viele dieser Art, die bereits stillgelegt wurden.» Man habe daher Vorlagen für den Rückbau, vor allem aus Deutschland. «Wir müssen die Puzzleteile nur noch gescheit zusammenfügen.»

René Maire (56), Gemeindepräsident von Mühleberg, versucht die Wehmut über die Abschaltung zu dämpfen. Man habe sich damit arrangiert: «Würde das Wasserkraftwerk unten an der Aare verschwinden, wäre der Aufschrei wohl grösser.»

Auch über die finanzielle Zukunft von Mühleberg macht er sich keine Sorgen: «Wir haben nie über die Stränge geschlagen.» Man werde den Steuerfuss dereinst halt dem der Nachbargemeinden angleichen.

15 Jahre dauert der Rückbau

Zwei Milliarden Franken kostet die Stilllegung inklusive Entsorgung der radioaktiven Abfälle. 15 Jahre dauert der Rückbau. Entscheidend sind die ersten zehn, bis das Areal von allem radioaktiven Material befreit ist. Von den 240 Brennelementen im Reaktor etwa: Die müssen fünf Jahre im Abklingbecken kühlen, bevor sie das Gelände verlassen dürfen.

Am längsten wird die Dekontaminierung des Gebäudes dauern: bis 2030. Total sind 16'000 Tonnen Material radioaktiv verstrahlt. Am stärksten belastet ist das Herzstück, der Reaktor. Er soll ab 2025 von deutschen Spezialfirmen zerlegt werden – mit ferngesteuerten Robotern.

3000 Tonnen Atommüll

Einen Grossteil des radioaktiven Materials müssen die Arbeiter von Hand zerkleinern. Im ausgeräumten Maschinenhaus werden sie die Oberflächen abfräsen oder mit Hochdruckreinigern dekontaminieren. Das dauert. Jedes Einzelstück wird am Ende mehrfach mit Strahlenmessern kontrolliert, damit auf keinen Fall Radioaktivität in die Umwelt gelangt. Das meiste kann dann konventionell entsorgt werden. Übrig bleiben 3000 Tonnen Atommüll, die für Jahrtausende in einem Tiefenlager verschwinden sollen.

Jürg Joss (53) vom Verein Fokus Anti-Atom müsste sich freuen, dass verschwindet, wogegen er seit 30 Jahren kämpft: «Aber ich erschrak darüber, dass man das Werk trotz Fukushima bis Ende 2019 laufen lassen will.» Früher arbeitete der Automationstechniker selbst in einem Atomkraftwerk. Bei einer Revision im AKW Leibstadt wurde er 1986 leicht verstrahlt. Der Vorfall machte ihn zum Atomkraftkritiker.

Sogar er räumt aber ein, dass BKW die Stilllegung glaubhaft angeht: «Sie haben uns separat eingeladen, um uns ihre Pläne vorzustellen. Das ist eine ganz neue Kultur.» Darum gehe der Verein nicht dagegen vor. Er selbst aber will den Prozess genau beobachten: «Das Kapitel Mühleberg ist für mich erst abgeschlossen, wenn dort wieder grünes Gras wächst.»

Danach sehnen sich die Initianten der Atomausstiegs-Initiative. Mit einem Ja am 27. November ginge Mühleberg bereits im nächsten Jahr vom Netz. «Stilllegen können wir das AKW ohne eine Bewilligung der Behörden nicht», sagt Philipp Hänggi von der BKW. Kein Kraftakt könne die Planung um zwei Jahre beschleunigen. «Wir gehen davon aus, dass die Initiative abgelehnt wird.» Und wenn nicht? «Dann», so Hänggi, «wird es für uns viel teurer.»

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