Was hatte man sich nicht alles ausgemalt! 96 Millionen Franken standen bereit, um Ungeimpfte doch noch vom einfachsten Weg aus dem Corona-Albtraum zu überzeugen.
Kommende Woche sollte eine wahre Armada von 1700 Beratern ausschwärmen. An der Haustür von Herrn und Frau Schweizer klingeln. Zur Not anrufen. Jeder Berater hätte 5000 Einwohner beackern können. Man hatte sich so viel vorgenommen.
Doch schon die Vernehmlassung liess einen harzigen Start erahnen. Die Kantone zerpflückten den Massnahmenstrauss. Von St. Gallen bis Genf rümpfte man die Nase. «Wir waren etwas zu rigide, haben uns ein paar Massnahmen etwas zu einfach vorgestellt», sagt der Mann, der es wissen muss.
Michael Beer ist Mr. Impfwoche. Es ist nicht die erste Spezialmission des 56-Jährigen, der eigentlich als Vizedirektor des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen tätig ist. Als die Welt auf einen Corona-Impfstoff wartete, der Lonza-Fabrik in Visp VS jedoch die Spezialisten fehlten, trieb er das Personal für den Pharmazulieferer auf.
Keine Hausbesuche
Beers Mission Nummer zwei ist politisch heikler. Und nun sagt er plötzlich: «Es wird keine Telefonaktionen und auch keine Hausbesuche geben.» Weil dies kein einziger Kanton will.
Zwar wird der Bund in der Impfwoche selber aktiv – wofür er zehn Millionen Franken ausgeben will. Unter anderem lädt die Eidgenossenschaft zum Hüttenzauber ins Impfdorf am Zürcher Hauptbahnhof und zu Konzerten von Musikern wie Stress, Baschi oder Stefanie Heinzmann. Den Grossteil der Impfkampagne aber sollten die Kantone bestreiten. Wie gross deren Anstrengungen sind, weiss Beer seit Mittwoch. Die ersten Offerten, in denen die Kantone ihr Budget beantragten, liegen SonntagsBlick vor.
Aus dem 96-Millionen-Topf haben die Kantone bislang erst knapp 18 Millionen Franken abgerufen – Geld, das direkt in die Kantonskassen fliesst. Vor allem geht es dabei um personalintensive Massnahmen wie mobile Impftruppen oder längere Öffnungszeiten von Impfzentren und Arztpraxen.
Der grosse Run aufs Geld ist also bislang ausgeblieben. Viele Kantone, darunter ausgerechnet die Impfschlusslichter aus der Ostschweiz, legen die Hände in den Schoss.
Innerschweizer Kantone müssen Gas geben
So auch Appenzell Ausserrhoden: Der Kanton beantragte für seine Impfkampagne 65'000 Franken. Das ist deshalb erstaunlich, weil man dort mit 57 Prozent eine der tiefsten Impfquoten der Schweiz aufweist. Um die restlichen 43 Prozent zu schaffen, investieren die Ausserrhoder nur 2.70 Franken pro Kopf.
Anders der Kanton Obwalden mit einer ähnlich tiefen Impfquote: 55 Prozent. Er schöpft 310'000 Franken aus dem Bundesratstopf – also 18 Franken pro Kopf, um bisher Ungeimpfte zu erreichen. Mit Abstand am meisten beantragte der Kanton Bern, Impfquote 65 Prozent. Er rief beim Bund 3,9 Millionen Franken ab – pro Ungeimpften 10.70 Franken.
«Unsere Erwartungen sind, dass die Kantone nochmals Gas geben und alle Möglichkeiten ausschöpfen», sagt Michael Beer. Zweckoptimistisch stellt er fest, die Kantone seien motiviert und kreativ. Dort würden auch bereits geltende Massnahmen weiterlaufen und neue dazukommen, die nicht vom Bund finanziert würden.
Lukas Engelberger betont ebenfalls, dass die Kantone bereits vor der Lancierung der Impfoffensive viel unternommen hätten. Zugleich verweist der Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK) auf deren knappe Personalressourcen.
Ansturm bleibt aus
Szenenwechsel zu einer Halle im Obwaldner Industriequartier Sarnen Nord: Im Erdgeschoss schwitzt man im Fitness, im zweiten Stock gibt es die Impfung, doch der Aldi-Parkplatz nebenan ist leer. So sieht sie also aus, die Offensive draussen im Land.
Maya Büchi hockt angespannt im neuen Impfzentrum, das am Freitag der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Obwaldens Gesundheitsdirektorin hat intensive Tage hinter sich. Seit letzter Woche ist ihr Kanton in den Schlagzeilen: In einem Giswiler Altersheim starben neun Bewohner an Covid. Die Obwaldner gelten als impfkritisch, belegen mit 55 Prozent einen der hintersten Plätze. Fragt man die Gesundheitsdirektorin, warum das so ist, blockt sie ab. Sie wisse es nicht, wolle auch nicht spekulieren.
Nun naht also die grosse Offensive. Wie viele Bürger man in Sarnen impfen will, ist nicht herauszufinden. «Der Bundesrat muss diese Berechnungen anstellen», sagt Büchi. Man sei sich allerdings durchaus bewusst, «dass es in Obwalden noch Luft nach oben gibt».
Gesundheitsbundesrat Alain Berset weigerte sich am Mittwoch vor den Medien, überhaupt ein Ziel zu nennen. Bekannt ist lediglich seit etwa vier Wochen, dass die Regierung bei den über 65-Jährigen eine Impfquote von 93 Prozent anstrebt. So stand es im Konzept für die Impfoffensive. Bei den 18- bis 65-Jährigen ziele man auf 80 Prozent.
SonntagsBlick weiss: Beim Bund hofft man auf eine halbe Million zusätzlich doppelt Geimpfter bis Ende Jahr. Am meisten Hoffnung setzt Bern auf Migranten und – trotz Openair-Konzerten – auf Senioren.
Plakat im Disco-Look
In Obwalden will man jedenfalls näher an die Bevölkerung. Mit dem Impfcamper die Bergstrassen hoch, mit dem Impftruck auf die Dorfplätze. Ein peppiges Plakat im Disco-Look, auf dem sich Bewohner des Kantons zur Impfung bekennen: ein DJ, ein Zahnarzt, ein alt Regierungsrat und natürlich Maya Büchi selber.
«Wo sind die Obwaldner Promis?», fragt ein Journalist und meint Marathonläufer Viktor Röthlin oder Skifahrerin Dominique Gisin. Die sind auf dem Plakat tatsächlich nicht zu sehen. Ein anderer fragt: «Und warum fehlen die Migranten?»
Ortswechsel nach Trogen AR in der Ostschweiz. Im Gemeindehaus informierten am Mittwoch kurzfristig Politiker aus St. Gallen, dem Thurgau und den beiden Appenzell über die bevorstehenden Impfwochen. Man lud in die edle Stube des Patriziergeschlechts Zellweger – eine würdige Umgebung. Was geboten wurde, war ein eher mageres Programm.
Kurzhypnose für Phobiker
Etwas längere Öffnungszeiten für Impfzentren, Spritzen ohne Voranmeldung, eine Kurzhypnose für Phobiker.
«Machen wir uns nichts vor», sagt Yves Noël Balmer, Ausserrhodens Gesundheitsdirektor, «wir werden auch nach der Impfwoche nicht zu den Spitzenreitern gehören». Dann erinnerte er an die lange Appenzeller Tradition der Naturheilung und daran, dass hier sogar die Masernimpfung den Volkszorn geschürt habe.
Derweil lehnt sich Bruno Damann weit aus dem Fenster. Der St. Galler Gesundheitsdirektor, bekannt für markige Sprüche («Man soll die Todesfälle nicht überbewerten») und seine Ablehnung von Corona-Tests, verfolgt ein ehrgeiziges Ziel: «Wir streben 80 Prozent Impfquote an.» Derzeit liegt sie bei 58 Prozent.
Sein Plan für den Kanton: kleine provisorische Impfzentren, Beratungen in Kirchen und ein Openair. Sogar eine Impftour ist für St.Gallen angedacht: ins Toggenburg bis nach Ebnat-Kappel, wo die Impfquote am tiefsten ist und der ehemalige SVP-Präsident Toni Brunner im Haus der Freiheit wirtet.
Nur: Warum erst jetzt? Man habe sich nichts vorzuwerfen, tiefe Impfquote hin oder her, sagen die Ostschweizer Regierungsräte. Man habe schliesslich schon viel getan.