Es passierte an einem schönen Sommertag im Juni. Im Nationalrat wurde wieder einmal über die Landwirtschaftspolitik gestritten. Zur Diskussion stand eine Motion des Aargauer SVP-Nationalrats und Mühlenbetreibers Hansjörg Knecht (57).
Er forderte, die sogenannten Landschaftsqualitätsbeiträge zu streichen. Diese erhält ein Bauer, wenn er Hochstammobstbäume pflanzt, traditionelle Trockensteinmauern pflegt und historische Ackerterrassen am Hang anlegt. Im Jahr 2015 hatte der Bund 70 Millionen Franken an solchen Qualitätsbeiträgen ausgeschüttet, was 2,5 Prozent der Direktzahlungen entspricht. Für Knecht dennoch hinausgeworfenes Geld, das besser der Produktionsförderung zugutekommen sollte.
Ein standhafter Oberländer
Die SVP stand fast geschlossen hinter der Motion ihres Fraktionsmitglieds. Einzig Erich von Siebenthal (58) aus Gstaad BE stimmte dagegen. Denn seine Wähler – Bergbauern im Berner Oberland – profitieren von den Beiträgen für die Landschaftspflege. Die Förderung der Produktion hingegen kommt vor allem den Landwirten im Tal zugute. Zum Beispiel jenen Bauern im Aargau, für die Motionär Knecht das Getreide verarbeitet.
Dass unterschiedliche Interessen aufeinandertreffen, ist normal im Parlament. Also alles kein Problem? Doch. Das fand jedenfalls SVP-Fraktionschef Adrian Amstutz (63, BE). Als er bemerkte, dass von Siebenthal Nein stimmte, versuchte er ihn zuerst mit lautem Rufen zur Umkehr zu bewegen.
«Erinnert an totalitäre Politsysteme»
Doch von Siebenthal blieb hart. Da stürmte Amstutz zu ihm nach vorne und wies ihn vor dem gesamten Nationalrat wild gestikulierend und lautstark in die Schranken. So berichteten es im Sommer verschiedene Parlamentarier und so hat es auch der Innerrhoder CVP-Nationalrat Daniel Fässler (57) in seinem Sessionsrückblick im «Appenzeller Volksfreund» beschrieben.
«Ist das die Selbstbestimmung und Freiheit, für welche sich die wählerstärkste Partei gemäss ihren eigenen Worten einsetzt?», fragte Fässler dort und antwortete gleich selbst: «Die Szene hat mich mehr an totalitäre Politsysteme erinnert.»
Der Führungsstil von Amstutz, der sich auf BLICK-Anfrage nicht dazu äussern wollte, ist aber nicht einfach störend. Denn in der Bundesverfassung, auf die sich die SVP immer gern beruft, heisst es, dass Parlamentarier ohne Weisung zu stimmen haben. In der Praxis verkommt dieser Satz aber mehr und mehr zur Makulatur.
Fraktionszwang hat zugenommen
BLICK hat die Nationalratsabstimmungen seit 2003 ausgewertet. Das Ergebnis: In der 47. Legislatur (2003–2007) trauten sich noch sieben Prozent der SVPler, gegen die Fraktionsmeinung zu stimmen. Heute sind es nur weniger als vier Prozent.
Das ist kein Zufall: Nach der Abwahl von Übervater Christoph Blocher (76) aus dem Bundesrat trimmte die SVP ihre Fraktion auf Treue. Im Fraktionsreglement nahm sie einen Passus auf, der jedes Mitglied, das «den Interessen der SVP Schweiz oder Fraktion in grober Weise» zuwiderhandelt, mit dem Ausschluss bedroht. Wie die BLICK-Analyse zeigt, hat diese Drohung die gewünschte Wirkung entfaltet.
Doch die SVP ist kein Einzelfall. Nicht nur die grösste Partei des Landes legt zunehmend Wert auf Disziplin. Alle Fraktionen der grossen Parteien stimmen immer geschlossener.
Stramme SP mit Einheitsmeinung
In der SP ist es geradezu Tradition, die Einheitsmeinung zu vertreten: Nur etwas über ein Prozent der Nationalräte wagen es, gegen das rote Politbüro zu stimmen. Auch bei den anderen Parteien ist der Trend zu mehr Fraktionsdisziplin erkennbar. Am freisten geht es noch bei der FDP zu: Immerhin stimmen durchschnittlich sieben Prozent gegen die Fraktionsmeinung.
Den grössten Sprung in Richtung Fraktionszwang aber macht Fässlers eigene Partei, die CVP: Noch in der letzten Legislatur lag die Fraktionsdisziplin bei 90 Prozent – der mit Abstand tiefste Wert. Nun sind es 94. «Wir stimmen geschlossener», bestätigt Fässler.
«Das hat mit der Zusammensetzung der Fraktion nach den letzten Wahlen zu tun, aber auch mit der neuen Rolle der CVP. Früher waren wir oft Mehrheitsbeschafferin.» Das falle weg, seitdem SVP und FDP selbst eine Mehrheit hätten. Fässler lässt sich dennoch nichts vorschreiben: «Wer die letzte Session untersucht wird feststellen, dass ich einige Male anders gestimmt habe als meine Fraktion – ohne dass es deswegen zu Streit gekommen wäre.»