Peter Maurer (64) reist zwar nicht mehr in der Welt herum, ihn zu treffen, ist coronabedingt aber nach wie vor nicht möglich. Er skypt aus seinem Büro in Genf – und wirkt entspannt. Per Anfang Juni hat Maurer seine dritte Amtszeit als Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) angetreten. Eine vierte wird es nicht nur aus Altersgründen nicht geben: Das IKRK kennt eine Amtszeitbeschränkung.
BLICK: Peter Maurer, normalerweise hört man von Ihnen aus Kriegsgebieten. Waren Sie auch während der Corona-Krise unterwegs?
Peter Maurer: Nein, in den letzten zwei Monaten war ich entweder in Bern im Homeoffice oder in meinem Büro in Genf. Anfang Jahr bin ich noch viel gereist. Zwei Tage vor dem Schweizer Lockdown war ich in Syrien.
Kann man humanitäre Arbeit aus dem Homeoffice leisten?
Man kann, zumindest bis zu einem gewissen Grad. Wir können eine Regierung beraten, eine Gefängnisverwaltung bei der Umsetzung von Hygienemassnahmen unterstützen oder natürlich virtuelle Ausbildungskurse durchführen. Ganz ohne persönliche Anwesenheit ist die Arbeit aber nicht möglich. Die meisten unserer weltweit rund 20'000 Mitarbeitenden sind noch in den Einsatzgebieten.
Wie hat sich die Arbeit vor Ort verändert?
Die lokale Präsenz, eine der Stärken der Rotkreuzbewegung, ist unglaublich wichtig geworden. Mit Gewalt waren wir natürlich immer konfrontiert. Corona hat viele Krisen noch verschärft. Im Jemen funktionieren schon wegen des Bürgerkrieges weniger als 50 Prozent des Gesundheitssystems – und jetzt kommt auch noch Corona hinzu. In Ländern wie Libyen sorgt die Pandemie zudem für neue Konflikte, weil Ressourcen knapp und Massnahmen umstritten sind.
Corona ist auch ohne Kriegssituation belastend genug.
Ja, vor allem die sekundären Folgen der Pandemie sind gewaltig – und gehen leider oft vergessen. Die meisten Länder können es sich nicht leisten, so viel Geld für die Aufrechterhaltung der Wirtschaft auszugeben wie die Schweiz. Ausgangssperren haben dort dramatische soziale und wirtschaftliche Auswirkungen. Ganze Bevölkerungsschichten verlieren ihr Einkommen, vor allem im informellen Sektor.
Lenkt Corona von schlimmeren Problemen ab?
Corona ist ein ernsthaftes Problem. In manchen Ländern erreicht die Pandemie erst jetzt ihren Höhepunkt. Aber die Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung in Europa und der Realität in unseren Einsatzländern ist gewaltig. Nehmen wir zum Beispiel den Südsudan: Innert zwei Monaten gab es da vielleicht 20 bis 30 Todesfälle wegen Corona. Im gleichen Zeitraum sterben 300 in bewaffneten Konflikten und 3000 an Cholera und Malaria.
Es leuchtet aber ein, dass im Fall einer Pandemie alle Kräfte mobilisiert werden.
Natürlich. Aber wenn alles Geld der internationalen Zusammenarbeit in die Bekämpfung der Pandemie fliesst, geht anderes vergessen. Das Schlimmste, was man tun kann, ist Corona nur als Virus zu bekämpfen, ohne die sekundären Folgen und die Gesundheitssysteme als ganze zu berücksichtigen. Wir haben das bei Ebola gesehen: Während es viel Unterstützung für den Kampf dagegen gab, sind die Sterblichkeitsraten bei anderen Krankheiten gestiegen.
Peter Maurer (64) ist seit Juli 2012 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Seine aktuelle und letzte Amtszeit als IKRK-Chef läuft noch bis 2024. Vor seinem Rotkreuz-Engagement machte Maurer als Diplomat Karriere und war in diversen Funktionen tätig – unter anderem von 2004 bis 2010 als Chef der Ständigen Mission der Schweiz bei den Vereinten Nationen in New York. Maurer ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.
Peter Maurer (64) ist seit Juli 2012 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Seine aktuelle und letzte Amtszeit als IKRK-Chef läuft noch bis 2024. Vor seinem Rotkreuz-Engagement machte Maurer als Diplomat Karriere und war in diversen Funktionen tätig – unter anderem von 2004 bis 2010 als Chef der Ständigen Mission der Schweiz bei den Vereinten Nationen in New York. Maurer ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.
Internationale Organisationen betonen gern, dass globale Probleme auch globale Lösungen brauchen. Corona zeigt das Gegenteil.
Es ist immer gut, Slogans zu hinterfragen. In gewissen Bereichen braucht es internationale Lösungen, beispielsweise wenn es um grosse Investitionen wie die Entwicklung eines Impfstoffs geht. Gleichzeitig ist die Reaktion auf die Pandemie lokal sehr unterschiedlich, in jedem Land gibt es andere Dynamiken. Wir sind immer wieder mit Situationen konfrontiert, die spezifisch sind und auch lokale Antworten erfordern. Corona ist ein globales Problem, die Lösungen aber sind oft sehr lokal.
Wie will eine Organisation wie das IKRK vermitteln, wenn in der Krise alle nur bis zu den eigenen Grenzen schauen? Selbst die Schweiz hat ja die Erfahrung gemacht, dass der Import von Medizinalgütern an der Grenze aufgehalten wurde.
Es lohnt sich immer, sachlich zu bleiben und aufzuzeigen, wo internationale Zusammenarbeit wirklich wichtig ist. Nehmen wir das Thema Impfstoff: Vom Augenblick an, da einer zur Verfügung steht, bis zum Moment, wo dieser auch in einem Dorf in Burkina Faso erhältlich ist, braucht es einen langen Weg – und viel Zusammenarbeit. Ich denke, solche zweckgebundenen Allianzen sind heute vielversprechender als die etwas altbackenen Vorstellungen von internationaler Zusammenarbeit.
Die Schweiz will dem IKRK ein Darlehen von 200 Millionen Franken gewähren. Was passiert damit?
Dieses Geld wird uns erlauben, trotz unsicheren Finanzflüssen unsere humanitäre Arbeit aufrechtzuerhalten. Für uns ist es daher enorm wichtig, solche Rückversicherungen zu haben. Aber es ist auch wichtig, neue Finanzflüsse und Finanzinstrumente zu schaffen und das IKRK auf eine nachhaltigere Finanzbasis zu stellen. Beides wird durch das Darlehen ermöglicht.
Heute Montag ist IKRK-Präsident Peter Maurer zu Gast im TheTalk@TheStudio von Ringier und Helvetia. Im Gespräch mit Moderatorin Christine Maier berichtet er, wie das IKRK mit der Herausforderung einer Pandemie sowie neuartigen Konflikten und dem Klimawandel umgeht, wie sich die humanitäre Arbeit verändert und wie er sich bei Reisen in Konfliktgebiete fühlt.
Zu sehen gibts TheTalk@TheStudio ab 16 Uhr live auf Blick TV.
Venezuela steckt seit Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise. Zwar hat das südamerikanische Land früh und drastisch auf die Pandemie reagiert. Stand Anfang Juni, sind laut WHO 1800 Menschen erkrankt und 18 verstorben. Doch Corona hat die bereits bestehenden Probleme noch einmal verstärkt. In dem einst reichen Land fehlt es an Lebensmitteln, Medikamenten und Treibstoff. Die Uno hat seit Beginn der Pandemie nach eigenen Angaben über 100 Tonnen Hilfsgüter in das krisengeschüttelte Land gebracht. Laut Schätzungen des Welternährungsprogramms sind die Preise für Nahrungsmittel seit Beginn der Pandemie um bis zu 150 Prozent gestiegen. Immerhin: Staatschef Nicolás Maduro und sein Widersacher Juan Guaidó haben angekündigt, gemeinsam und unter Beteiligung der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation nach Finanzmitteln zur Bekämpfung des Coronavirus zu suchen. Venezuelas Präsident und der Oppositionschef sind seit 2019 in einen Machtkampf verstrickt.
Venezuela steckt seit Jahren in einer schweren Wirtschaftskrise. Zwar hat das südamerikanische Land früh und drastisch auf die Pandemie reagiert. Stand Anfang Juni, sind laut WHO 1800 Menschen erkrankt und 18 verstorben. Doch Corona hat die bereits bestehenden Probleme noch einmal verstärkt. In dem einst reichen Land fehlt es an Lebensmitteln, Medikamenten und Treibstoff. Die Uno hat seit Beginn der Pandemie nach eigenen Angaben über 100 Tonnen Hilfsgüter in das krisengeschüttelte Land gebracht. Laut Schätzungen des Welternährungsprogramms sind die Preise für Nahrungsmittel seit Beginn der Pandemie um bis zu 150 Prozent gestiegen. Immerhin: Staatschef Nicolás Maduro und sein Widersacher Juan Guaidó haben angekündigt, gemeinsam und unter Beteiligung der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation nach Finanzmitteln zur Bekämpfung des Coronavirus zu suchen. Venezuelas Präsident und der Oppositionschef sind seit 2019 in einen Machtkampf verstrickt.
Die Sahelzone – ein Gebiet, das sich südlich der Sahara vom Atlantik bis zum Roten Meer erstreckt – ist in einer schweren humanitären Krise. Neben Armut und Klimawandel haben Aktivitäten von Terrorgruppen wie Boko Haram und Ablegern des Islamischen Staats (IS) Millionen in die Flucht geschlagen. Nun erhöht die Corona-Pandemie den Druck auf die schwachen staatlichen Strukturen in der Region. Die Nichtregierungsorganisation International Crisis Group warnt davor, dass Terrorgruppen davon profitieren könnten: etwa in Niger, aber auch im ohnehin schon kriegsgeprägten Mali. Denn Staat und Sicherheitskräfte sind vollauf mit dem Kampf gegen Corona beschäftigt. Und auch die internationale Zusammenarbeit ist gebremst. Ende Mai hat etwa der Deutsche Bundestag beschlossen, den Bundeswehr-Einsatz in Mali zu verlängern – unter anderem werden malische Streitkräfte ausgebildet. Nur ist die Trainingsmission seit April ausgesetzt. Wegen Corona.
Die Sahelzone – ein Gebiet, das sich südlich der Sahara vom Atlantik bis zum Roten Meer erstreckt – ist in einer schweren humanitären Krise. Neben Armut und Klimawandel haben Aktivitäten von Terrorgruppen wie Boko Haram und Ablegern des Islamischen Staats (IS) Millionen in die Flucht geschlagen. Nun erhöht die Corona-Pandemie den Druck auf die schwachen staatlichen Strukturen in der Region. Die Nichtregierungsorganisation International Crisis Group warnt davor, dass Terrorgruppen davon profitieren könnten: etwa in Niger, aber auch im ohnehin schon kriegsgeprägten Mali. Denn Staat und Sicherheitskräfte sind vollauf mit dem Kampf gegen Corona beschäftigt. Und auch die internationale Zusammenarbeit ist gebremst. Ende Mai hat etwa der Deutsche Bundestag beschlossen, den Bundeswehr-Einsatz in Mali zu verlängern – unter anderem werden malische Streitkräfte ausgebildet. Nur ist die Trainingsmission seit April ausgesetzt. Wegen Corona.
Der indische Lockdown machte weltweit Schlagzeilen. Nicht weil die Massnahmen viel anders als in anderen Ländern wären, sondern wegen des Tempos: Am 24. März verkündete Premier Narendra Modi den Lockdown für 1,37 Milliarden Menschen, vier Stunden bevor er in Kraft trat. Damit löste er eine humanitäre Katastrophe aus. Millionen von Wanderarbeitern machten sich aus den indischen Metropolen auf den Weg in die Heimat. Wer blieb, hatte schlagartig kein Einkommen mehr. 80 bis 90 Prozent der indischen Bevölkerung arbeiten im informellen Sektor. Nun hat die Regierung die Konsequenzen gezogen und ist dabei, den Lockdown schrittweise aufzuheben. Zu gravierend sind die sozialen und wirtschaftlichen Folgen. Doch auch die Corona-Gefahr bleibt. Schon Mitte Mai sind in der Millionenstadt Mumbai die Spitalbetten knapp geworden. Und laut Weltgesundheitsorganisation WHO steigen die indischen Ansteckungszahlen weiterhin – aktuell sind es über 180'000 Infizierte.
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