Als Ignazio Cassis (56) gestern Morgen durch die Tür des Sitzungszimmers trat, war der Entscheid bereits offensichtlich. Die FDP Tessin geht mit einem Einerticket ins Rennen um den freigewordenen Bundesratssitz von Didier Burkhalter. Auserwählter: Nationalrat und FDP-Fraktionschef Cassis, der schon im Vorfeld als Kronfavorit galt.
Man habe mehrere valable Kandidaten im Kanton gefunden, sagte Bixio Caprara, Präsident der FDP Tessin, an der Medienkonferenz. Doch alle hätten ihm bestätigt, dass Cassis «der fähigste Kandidat und auch der mit den grössten Wahlchancen» sei. Cassis begründete seine Kandidatur damit, dass er «die Schweiz liebe».
Der Tessiner Finanz- und Wirtschaftsdirektor Christian Vitta (44) und seine Vorgängerin Laura Sadis (56) hingegen, die beide öffentlich Interesse an einer Kandidatur bekundet hatten, gehen leer aus. Vitta gibt sich als fairer Verlierer: «Im Fall einer Einerkandidatur aus dem Tessin ist der Name von Ignazio Cassis eine logische Wahl.»
Und an dieser Solo-Strategie hält die FDP Tessin trotz Kritik fest. So habe man die besten Chancen, einen Tessiner in den Bundesrat zu hieven, ist FDP-Tessin-Präsident Caprara überzeugt.
Doch ist dem wirklich so? Unter der Bundeshauskuppel ist man sich da nicht so sicher. «Ich bin perplex über diese Strategie – und ich bin nicht die Einzige», sagt die Tessiner SP-Nationalrätin Marina Carobbio. Aus ihrer Sicht ist es viel zu früh, sich bereits auf eine Person aus dem Tessin festzulegen. Mehrere Kandidaturen hätten zudem gegenüber dem Rest der Schweiz ein stärkeres Signal gesendet, ist Carobbio überzeugt.
Als «ein Spiel mit dem Feuer» bezeichnet Rosmarie Quadranti, Fraktionspräsidentin der BDP, den Entscheid der Tessiner FDP. Zwar erhöhe sich mit einem Einerticket die Chance für Cassis, gewählt zu werden. «Aber man kann auch sagen: Das Feld ist offen für andere.» Nun komme es sehr darauf an, welche Kandidaten die anderen Kantonalparteien nominieren.
CVP-Nationalrat Yannick Buttet (VS) ist überzeugt, dass vom Entscheid der Tessiner FDP vor allem die Romandie profitieren wird. «Man hat den Eindruck, die FDP will gar keinen Bundesrat aus dem Tessin», sagt er. Vielmehr habe der Entscheid, nicht mit zwei Kandidaten ins Rennen zu gehen, nun die FDP in der Westschweiz geweckt, «vor allem die Frauen». «Sie haben jetzt wirklich eine Chance.» Und selbst FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen räumt ein: «Ein Stück weit ist nun eine Tür für die Romandie aufgegangen.»
Kritisch wird die Einerticket-Taktik zudem nicht nur im Hinblick auf das Ziel, endlich eine Tessinerin oder einen Tessiner in den Bundesrat zu holen. Keine Auswahl zu haben, möge die Bundesversammlung gar nicht, gibt Buttet zu bedenken. Und auch Quadranti sagt: «Normalerweise wollen die Parlamentarier die Wahl haben und nicht einfach jemanden vorgesetzt bekommen.»
Noch ist der Entscheid der Tessiner Freisinnigen nicht fix. Das letzte Wort hat die Delegiertenversammlung, die am 1. August zusammenkommt. Sie kann die Strategie der Parteileitung absegnen – aber auch komplett über den Haufen werfen. Viele hoffen auf Letzteres.