Heute Aleppo, gestern Sarajevo
Wenn Kriege langweilen, stirbt die Menschlichkeit

Die syrische Stadt Aleppo ist gefallen, unermesslich ist das Leid der Zivilbevölkerung. Und es ist nicht das erste Mal, dass die Welt wegschaut, statt zu handeln. Erinnerungen an die Belagerung von Sarajevo (1992–1996).
Publiziert: 15.12.2016 um 10:15 Uhr
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Aktualisiert: 21.10.2022 um 11:19 Uhr
Unter Beschuss von serbischen Heckenschützen: Sarajevo im April 1992.
Foto: AFP
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Andreas DietrichChefredaktor Blick

Ich konnte es nicht mehr hören. Sarajevo. Ja, schlimm, was in der eingekesselten Stadt passiert, dort irgendwo in Ex-Jugoslawien. Aber schon lange schlimm. Wieder Tote, wieder Granaten, immer dasselbe, immer noch Krieg. Fast alle hörten und schauten wir weg in der Schweiz, damals in den 1990er-Jahren.

Einmal wurde ruchbar, dass serbische Kellner einer Beiz, in der ich gern verkehrte, an Wochenenden in die Heimat fuhren, um Soldaten zu sein. Und sich eines Tages weigerten, weiter mit dem bosniakischen Kollegen zusammen zu arbeiten. Da fiel der Schatten des Kriegs bis in die Berner Altstadt, und fortan mied ich das Lokal. Kurzes Aufflackern von Betroffenheit. Aber es gab kaum etwas Langweiligeres als der Bosnien-Krieg.

Beschämt in der unerhörten Stadt 

Doch dann wurde ich tiefer erschüttert und mehr beschämt als je zuvor in meinem Leben. Im Winter 1995 reiste ich, mehr aus Zufall denn Interesse, für eine Reportage ins geschundene Sarajevo. Das Ende der Belagerung, die im April 1992 begonnen hatte, war absehbar. Sie dauerte insgesamt 1425 Tage. Die letzten Heckenschützen holten sich ihre letzten Opfer, zum eigenen Vergnügen noch. 

Plötzlich war Sarajevo nicht mehr das Wort, das ich nicht mehr hören konnte. Plötzlich war es eine lebendige Stadt voller toter Seelen. Die Ruinen waren zum Anfassen, die kaputten Häuser bewohnt von richtigen Menschen. Versehrten, Überlebenden, unerhört tapferen Menschen.

Geschichten, die der Tod schrieb

Sie liessen mich in ihre kalten Wohnungen, in denen sie sich die menschliche Würde zu bewahren versuchten. Sie kochten für mich grosszügig mit dem Wenigen, das sie hatten. Sie erzählten mir ihre Geschichten. In jeder kamen tote Verwandte vor.

Eine Geschichte war jene von Boban, einem serbischen Bosnier, der dem Ethnie-Faschismus von Serbenführer Karadzic den Glauben an die Vielvölkerstadt Sarajevo entgegenhielt. Zu einem hohen Preis: An der Front drei Mal verletzt, operiert ohne Narkose, sein neugeborener Sohn von einem Granatsplitter getötet. Als er ihn in den Sarg legt, den er aus dem letzten Brennholz zimmerte, kommt der Friedhof unter Beschuss. 

Leid darf uns nie verleiden

Solche Geschichten gab es Tausende. Ich hätte nur hinhören müssen. Vorher. Jetzt war es zu spät. Die abgestumpfte Welt hatte die Menschen von Sarajevo im Stich gelassen. Und ich war ein Teil davon. Seither weiss ich: Elend muss beelenden, Leid darf uns nie verleiden. Überdruss ist ein heimtückischer Feind der Menschlichkeit.

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