Eine ungeschriebene Regel im Bundeshaus lautet: Stemmt sich Bauernverbandspräsident Markus Ritter (Die Mitte, SG) mit seinen Leuten gegen eine Vorlage, geht diese früher der später bachab. Zu zahlreich und zu gut organisiert sind die Interessenvertreter der Landwirtschaft in den beiden Kammern.
Am Mittwoch brach das Parlament mit diesem Gesetz. Der Nationalrat stimmte für die Abschaffung der Industriezölle, die dem Bund jährlich eine halbe Milliarde Franken einbringen. Gegen den erklärten Widerstand der Bauernlobby, die bereits vor dem nächsten Schritt warnt, nämlich einem Abbau der Agrarzölle. Jener Schranke also, welche die Bauern vor der billigen ausländischen Konkurrenz schützt. «Mit diesem Entscheid gibt die Schweiz ihren Handlungsspielraum für Verhandlungen von Freihandelsabkommen in einem sehr wichtigen Bereich auf. Das macht mir Sorgen», sagt Ritter. Jeder Verhandlungspartner verlange im Zollbereich jeweils Zugeständnisse. «Die Manövriermasse bei den Industriezöllen ist nun weg. Der Druck auf unsere Agrarzölle wird deutlich ansteigen, damit die Verhandlungen zum Abschluss gebracht werden können.» Beim Geben und Nehmen solcher Verhandlungen, so Ritters durchaus berechtigte Sorge, käme die Schweiz künftig kaum um Kompromisse bei der Landwirtschaft herum. Auf Kosten der Bauern, versteht sich.
Deshalb hatte der Bauernverband sich im Vorfeld noch mit einem Schreiben an die Parlamentarier mit Bezug zur Landwirtschaft vor der Abschaffung gewarnt. Und für einen Kompromissvorschlag von Mitte-Nationalrat Leo Müller geworben. Müllers Antrag unterlag trotz Support von links denkbar knapp. Ausgerechnet Nationalratspräsident und Landwirt Andreas Aebi (62, SVP) fällte den Stichentscheid und stimmte entgegen der Empfehlung des Bauernverbandes.
Bemerkenswerter Umschwung
Ritter musste konstatieren, dass weder die gesamte Mitte-Fraktion noch die Landwirte der SVP seine Linie mittragen. Überhaupt hat die SVP, welche die ländliche Schweiz in diesen Tagen noch etwas fester umarmt als sonst, einen bemerkenswerten Umschwung hinter sich. Noch im Sommer 2020, als das Parlament zum ersten Mal darüber beriet, wollte die Hälfte der Fraktion von einer Abschaffung der Industriezölle gar nichts wissen. Nationalrat Roger Köppel (56) fragte in der Debatte den zuständigen Bundesrat und Parteikollegen Guy Parmelin: «Wieso soll die Schweiz dieses Pfand verschenken?» Er kenne kein Land, das bereit sei, Zölle einfach unilateral preiszugeben, stellte Köppel fest. Inzwischen will die SVP grossmehrheitlich genau das. Köppel entzog sich diesem Widerspruch, indem er an der Abstimmung vom vergangenen Mittwoch gar nicht erst teilnahm.
Für Ritter und seine Mitstreiter bleibt im Parlament ein letzter Ausweg. Das Geschäft muss die Schlussabstimmung am Ende der Session bestehen. Gewöhnlich eine Formsache, aber wie gewohnt läuft in diesem Fall eher wenig. Die Frage ist, ob genügend Politiker der gespaltenen Mitte oder Bauernvertreter der SVP bereit sind, das Lager zu wechseln. «Wie die Diskussion bis dahin läuft, kann ich nicht sagen», meint Ritter. Scheitert er mit seinen Überredungskünsten, bleibt nur die Volksabstimmung, um die Abschaffung der Zölle zu verhindern. SP und Grüne liebäugeln mit einem Referendum.
«Unfassbar dumm»
«Wir geben ein mächtiges Instrumentarium aus der Hand, eine sinnvolle Industriepolitik zu betreiben», warnt SP-Nationalrätin Jacqueline Badran. «Diese Gestaltungsmöglichkeit durch eine pauschale Abschaffung aufzugeben und dem Bund mehr als eine halbe Milliarde Franken pro Jahr zu entziehen, ist unfassbar dumm», schimpft Badran. Man werde nicht zusehen, wie die produzierende Industrie vor die Hunde gehe. «Deshalb werden wir das Referendum dagegen sicherlich prüfen.» Ein Referendum an der Seite der Linken, kein Szenario, das Ritter in Jubelstimmung versetzt. Aber auch keines, das er kategorisch ausschliesst. «Wird nach der Schlussabstimmung ein Referendum von linker Seite lanciert, kann man zumindest sagen, dass dies absehbar war und hätte verhindert werden können», meint er vielsagend. Und wenn Markus Ritter etwas verhindern will, dann gelingt ihm das auch. In der Regel.