SonntagsBlick: Herr Glättli, vor einem Jahr scheiterte der Putschversuch in der Türkei. Sie haben das Land zum wiederholten Mal besucht. In welcher Verfassung befindet es sich?
Balthasar Glättli: Es kommt darauf an, welche Region Sie bereisen. In Istanbul merkt man, abgesehen von einer starken Militärpräsenz, nicht viel. In den Kurdengebieten aber, etwa in der Stadt Diyarbakir, sieht es anders aus.
Was sieht anders aus?
Die Sicherheitskräfte sind deutlich präsenter. Allerdings: Im letzten Herbst befand sich Diyarbakir regelrecht im Belagerungszustand. Das ist nicht mehr so. Nach Tausenden Inhaftierungen und Entlassungen hat eine bleierne Ruhe Einzug gehalten. Der Umsturzversuch ermöglichte es dem Regime, die Repression massiv zu erhöhen. Die perfekte Rechtfertigung des Ausnahmezustandes.
Was bedeutet eine Entlassung oder gar Verhaftung im heutigen politischen Klima der Türkei?
Das ist der soziale Tod. Wer vom Staat entlassen wurde, bekommt keine neue Stelle mehr und steht auch wirtschaftlich vor dem Ruin.
Für wie viele Türken gilt das?
Seit dem Putsch wurden über 100'000 Beamte entlassen, Richter, Staatsanwälte, Lehrer, Polizisten …
Kann der Staat nach einem solchen Aderlass noch funktionieren?
Nein, die Türkei geht auf den Felgen. Ein Lehrer ist auf einen Schlag zuständig für drei Klassen. Oder es übernimmt gleich ein Absolvent der nächsten Koranschule.
Wie stabil ist diese Türkei noch?
Erdogans Repression kostet Unsummen, zugleich bricht der Tourismus ein, der zentral ist für die türkische Wirtschaft. Erdogan gewann mit dem Aufstieg breiter Bevölkerungsteile aus der Armut viel Unterstützung. Bricht diese Entwicklung ab, wankt auch sein Regime. Es steht auf tönernen Füssen.
Wie gefährlich ist das?
Erdogan steht mit dem Rücken zur Wand. Er hat das Gefühl, dass er sich durchsetzen muss – oder er hängt am nächsten Baum. Das macht ihn unberechenbar. Die kurdischen Politikerinnen und Politiker, mit denen ich gesprochen habe, fürchten genau dies.
Also sollte man nicht mehr in die Türkei in die Ferien fahren – um Erdogan zu schaden?
Ich mache sicher niemandem Vorschriften. Aber ich würde nicht zum Spass dorthin reisen.
Aber funktioniert der Alltag dort normal?
Ja, man merkt auf den ersten Blick nicht viel – bis man mit den Menschen spricht.
Was erzählten sie Ihnen?
Viele Oppositionelle, Journalisten und Anwälte sprechen ungeschminkt. Sie haben nichts mehr zu verlieren. Das ist kein Getue. Ich habe Dutzende Menschen getroffen, die bereit sind, ihr Leben im zivilen demokratischen Widerstand gegen Erdogan zu opfern. Wie etwa Ahmet Türk, eine wahre Ikone der Kurden. Er sass schon vor dem Putsch jahrelang hinter Gittern. Jetzt leistet er weiter Widerstand. Anderen geht es aber deutlich schlechter.
An wen denken Sie?
Die Schriftstellerin Asli Erdogan, die sich nicht als Politikerin versteht, sass vier Monate im Gefängnis. Sie ist gebrochen, sie ist kaputt.
Was kann und was soll die Schweiz in dieser Situation tun?
Wir können vermitteln, was der Bundesrat auch regelmässig anbietet. Aber wir können mehr tun. Etwa indem der Bund den Verfolgten in der Türkei Geld und Rechtsmittel bereitstellt. Und deren Prozesse dann auch überwacht. Die Mittel dafür wären vorhanden. Wichtig bleibt weiterhin die direkte Solidarität. Ein Beispiel: In unserer Delegation war auch eine Vertreterin des Genfer Bürgermeisters. Denn der engagiert sich für die abgesetzten Bürgermeister.
Sind wir Europäer nicht auf Erdogan angewiesen, weil er sonst seine Grenzen für Millionen syrischer Flüchtlinge nach Westen öffnet?
Der Flüchtlings-Deal war schon immer falsch. Wir dürfen uns nicht zu Geiseln eines gewählten Diktators machen!
Sie sagen es, Erdogan wurde gewählt. Das Referendum vom Frühjahr, aufgrund dessen er seine Macht ausbaut, hat ihn bestätigt.
Die Türkei ist im günstigsten Fall noch eine gelenkte Demokratie. Die Korrektheit der Referendumsabstimmung bezweifelt nicht nur die Opposition, sondern auch unabhängige
Beobachter.
Wie wirkt sich das Regime Erdogans auf die türkische Gemeinde in der Schweiz aus?
Sie ist in Angst. Viele leben in Sorge um ihre Verwandten in der Türkei. Das ist berechtigt. Der türkische Staat führt ein Register über Kritiker im Ausland.
Ist Erdogan mit friedlichen Mitteln noch zu stoppen?
Ich bewundere die vielen Oppositionellen, die unbeirrt den Weg des friedlichen Widerstandes gehen. Und ich hoffe, dass das so bleibt. Wenn ich in ihrer Situation wäre, würde ich mir ernsthaft überlegen, eine Waffe zu ergreifen und in die Berge zu gehen. Dabei bin ich Pazifist!