Minus fünf Grad kalt ist es an diesem Donnerstagmorgen in Frutigen BE. Ski- oder Wellness-Wetter – je nach Empfinden. Doch der Präsident der Grünliberalen, Jürg Grossen (49), hat BLICK auf eine Bike-Tour eingeladen, um über das Wahljahr 2019 zu diskutieren. Er gehe bei jedem Wetter und jeder Temperatur aufs Velo, erzählt der Berner Oberländer. «Wenn ich mich über mehrere Tage nicht bewegen kann, merke ich das körperlich. Ich kriege Magenbeschwerden.»
Also steigen wir aufs Bike und fahren über eine dünne Schneedecke Richtung Mäggisserenhorn. Grossen kennt jeden Gipfel rund um seine Heimat in- und auswendig. In Frutigen ist er aufgewachsen, hier wohnt er mit seiner Ehefrau und Jugendliebe Annelies (49) und den drei 14- bis 20-jährigen Kindern. Hier hat er mit lediglich 25 Jahren zusammen mit einem Kollegen eine Elektroplanungsfirma übernommen – nachdem der damalige Firmenboss bei einem Heli-Unglück ums Leben gekommen war.
Die Route geht steil aufwärts. Schnell kommen wir trotz den Minusgraden ins Schwitzen. Der überaus fitte GLP-Chef hat jedoch genügend Luft, um über die Feiertage und das bevorstehende Wahljahr zu sprechen.
Wie haben Sie die Festtage verbracht?
Ich habe Kraft und Energie getankt. War auf dem Velo, Fussball spielen und habe drei schöne Skitouren gemacht. Daneben habe ich auch immer ein bisschen gearbeitet: Mails beantwortet und das intensive Wahljahr vorbereitet. Weihnachten habe ich mit der Familie verbracht. Es gab Fondue chinoise.
Das dürfte für Sie als Vegetarier nicht das Lieblingsessen sein?
Das stimmt, ich gönne es aber meiner Familie. Ich habe, ausser ab und zu Cervelat und Bratwurst, nie Fleisch gegessen. Fisch habe ich aber gerne. Ich bin also nicht ganz dogmatisch, und dazu gab es ja Reis, Gemüse und dann ein feines Dessert.
Nun steht das intensive Wahljahr an. Die GLP hat 2015 massiv Mandate verloren und sitzt nur noch mit sieben Personen im Nationalrat. Was ist Ihr Wahlziel 2019?
Ich möchte, dass wir im Nationalrat drei bis fünf Sitze zulegen und damit zur Stärke der Legislatur 2011 bis 2015 zurückkehren. Dazu müssen für die GLP wichtige Themen – etwa Umwelt, Europa oder Wirtschaft – im Wahljahr auch tatsächlich breit diskutiert werden.
Im Ständerat ist die GLP gar nicht mehr vertreten – und das dürfte so bleiben.
Wir werden in diversen Kantonen mit sehr guten Kandidatinnen und Kandidaten antreten. Aber ja, es wird schwierig sein, einen Sitz zu ergattern. Aber wir versuchen es und sind bereit.
Als Kleinpartei müssen Sie auch auf Gewinne respektive Verluste von anderen Parteien hoffen, damit es zu Blockverschiebungen kommt und Ihr Einfluss im Parlament steigt. Auf welche Veränderungen hoffen Sie?
Entscheidend ist, dass die Mitte gestärkt und die Polparteien geschwächt werden. Das ist eminent, damit es in der Schweiz Fortschritt gibt. Die Polparteien stehen für Stillstand. Die SVP war schon immer konservativ, die SP jedoch wird je länger, je mehr zur stockkonservativen Partei.
Eine stockkonservative SP? Später werden wir Grossen nach einer Begründung für diese Aussage fragen. Doch wir sind am höchsten Punkt unserer Route angelangt. Jetzt geht es erst mal abwärts. Aber nicht der Strasse entlang, sondern über einen mit einer dünnen Schneedecke gezuckerten Wanderweg.
Grossen freut sich wie ein kleines Kind auf den Downhill, schwingt sich aufs Bike und kurvt für die schwierigen Verhältnisse in ordentlichem Tempo den Hang runter.
Die eisige Luft geht nun so richtig durch Mark und Bein. Bei einem heissen Tee und Mittagessen im Restaurant Tropenhaus – das Klima ist dort tatsächlich tropisch – sind wir jedoch schnell wieder aufgewärmt.
Herr Grossen, Sie kritisierten die SP vorher als «stockkonservativ». Das müssen Sie erklären!
Etwa bei Themen der Digitalisierung oder Anpassung des Arbeitsrechts. Hier macht die SP auf totale Verweigerungshaltung. Neue, flexible Arbeitsformen und praktische Plattformdienste wie Booking.com oder Uber sollen eingeschränkt oder gar verboten werden. Auch beim Rahmenvertrag mit der EU gibt der Gewerkschaftsflügel innerhalb der SP den Ton an und macht auf Gesprächsverweigerung. Damit setzt die SP das Erfolgsmodell Schweiz aufs Spiel.
Für die SP ist der Lohnschutz heilig. Der Widerstand gegen ein Rahmenabkommen, das den Lohnschutz schwächt, doch nachvollziehbar.
Das Lohnschutzniveau wird mit dem Rahmenvertrag ja nicht grundsätzlich geschwächt. Es sind technische Anpassungen geplant – etwa die Verkürzung der Meldefrist von acht auf vier Tage. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten dürfte dies ohne substanziellen Abbau beim Lohnschutz möglich sein. Doch die SP verharrt dogmatisch im Schützengraben.
Dennoch: Die GLP steht als einzige Partei vorbehaltlos hinter dem ausgehandelten Rahmenvertrag, alle anderen haben mindestens Vorbehalte. Wieso diese Euphorie?
Wir sind nicht euphorisch, aber realistisch. Das vorliegende Abkommen ist das Optimum, was die Schweiz herausholen konnte. Es sichert uns langfristig den diskriminierungsfreien Zugang zum europäischen Binnenmarkt und zu den Bildungs- und Forschungsinstitutionen. Wenn wir uns diskriminiert fühlen, können wir uns wehren. Es gibt eine Streitschlichtung über rechtliche Instanzen. Und das Abkommen bietet Möglichkeiten, die Bilateralen weiterzuentwickeln. Etwa ein Stromabkommen ist für die Schweiz absolut notwendig. Nur mit einem starken und vernetzten Wirtschafts-, Forschungs- und Bildungsstandort Schweiz können wir unseren Wohlstand langfristig erhalten.
Nur wenige Stunden, nachdem der genaue Vertragsinhalt bekannt geworden ist, fällten Sie schon eine durchwegs positive Bilanz. Haben Sie das Dokument überhaupt genau gelesen?
Die wesentlichen Punkte waren seit längerem bekannt und wurden von anderen Akteuren auch entsprechend schon früh kritisiert. Wir haben uns intensiv mit dem Abkommen beschäftigt – und sind klar der Meinung: Etwas Besseres gibt es nicht, auch wenn es einen Preis hat. Die Zeiten, in denen die Schweiz einzig Rosinen picken konnte, sind vorbei. Ich bedaure das, aber es ist die Realität. Die EU hat die Schraube gegenüber der Schweiz angezogen.
Ein heikles Thema ist auch die Unionsbürgerrichtlinie, die im Rahmenabkommen nicht explizit ausgenommen ist. Sie sind also dafür, dass die Sozialleistungen für Ausländer und Grenzgänger dereinst stark ausgebaut werden könnten?
Bei dieser Frage wird der sonst sehr ruhig und zurückhaltende Grünliberalen-Chef plötzlich energisch, das soeben servierte Risotto lässt er vorläufig vor sich stehen: «Die Unionsbürgerrichtlinie ist nicht Teil des Rahmenabkommens. Punkt. Es zeigt wie schwach die Argumente der Gegner sind, wenn sie sich auf etwas stürzen, dass nicht im Abkommen steht, weil es ‹nicht explizit ausgenommen› ist», schimpft er.
Wenn die EU die Unionsbürgerrichtlinie künftig verlange, gebe das eine separate Diskussion, fährt Grossen im gewohnt nüchternen Tonfall weiter, um dann erneut in Angriffsmodus zu wechseln: «Ich störe mich aber an der grundsätzlichen Abwehrhaltung der anderen Parteien gegenüber dem ‹Fremden›, als ob alle nur darauf aus wären, uns auszunutzen.»
Grossen erinnert daran, dass zum Zeitpunkt der Geburt seines Grossvaters noch Tausende Leute aus bitterer Armut und Perspektivlosigkeit aus der Schweiz auswanderten – «Wirtschaftsmigration, wie sie im Bilderbuch steht». Seit dann habe es die Schweiz dank Mut, Fleiss, Geschick, aber auch dank internationaler Vernetzung und vielen ausländischen Arbeitskräften zu einem enormen Wohlstand gebracht. «Hätten wir uns abgeschottet, wären wir immer noch ein sehr armes Land.»
Keine zehn Monate mehr, dann wird abgerechnet: Am 20. Oktober 2019 finden Wahlen statt, werden National- und Ständerat neu bestellt. Vor allem für die Parteispitzen sind Wahljahre intensiv. Kaum je sonst steht die Politik so sehr im Schaufenster, selten wird mit härteren Bandagen gekämpft.
Die Zeit «zwischen den Jahren» ist für die Parteichefs die letzte Atempause vor den harten Monaten. BLICK wollte wissen: Wie verbringen sie diese ruhige Zeit? Wo tanken sie auf? Sind sie fit für den Wahlkampf? Also haben wir sieben Parteipräsidenten begleitet – beim Jagen, beim Spazieren, mit dem Bike. Den Anfang machte SP-Chef Christian Levrat (48), gefolgt von CVP-Chef Gerhard Pfister (56), BDP-Präsident Martin Landolt (50) und FDP-Chefin Petra Gössi (42). Heute sind wir mit Regula Rytz (56) auf dem Gurten.
Keine zehn Monate mehr, dann wird abgerechnet: Am 20. Oktober 2019 finden Wahlen statt, werden National- und Ständerat neu bestellt. Vor allem für die Parteispitzen sind Wahljahre intensiv. Kaum je sonst steht die Politik so sehr im Schaufenster, selten wird mit härteren Bandagen gekämpft.
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