Giorgio Tuti vertritt 55 000 Angestellte
Kämpfer für den ÖV

Girogio Tuti ist Präsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals. Er will «die hohe Substanz des schweizerischen ÖV erhalten und nicht alles blindlings dem Wettbewerb überlassen».
Publiziert: 01.05.2017 um 11:45 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 04:50 Uhr
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Vasco Pedrina (l.), der ehemalige Zentralpräsident der Gewerkschaft Bau + Holz, holte Giorgio Tuti Mitte der 90er-Jahre zur neu formierten Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) ins Tessin.
Foto: Keystone
René Lüchinger

Es gibt Menschen, die wirken hinter einem Rednerpult überlebensgross. Jedenfalls grösser als in natura. Liegt es an den Worten, die sie ins Pub­likum schleudern? An der Grösse der Organisation, die sie vertreten? An der Aura, die sie als Redner umgibt?

Anfang Monat stand Gior­gio Tuti am Rednerpult des zweiten Schweizer Avia­tik-Symposiums, sprach über die «Arbeitsbedingungen in der Transportbranche», von «grenzenloser Mobilität, die zu grenzenloser Ausbeutung führe». Der Mann redete ohne spürbare innere Erregung. Nüchtern, als würde er eine Gebrauchsanweisung zum Besten geben. Das wirkt.

Zuständig für 55'000 Arbeitnehmer

Giorgio Tuti, Präsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV) ist kein parolenschwingender Klassenkämpfer, sondern ein gewerkschaftlicher Manager, Chef der drittgrössten Arbeitnehmerorganisation der Schweiz, der für Arbeitsbedingungen und Gesamtarbeitsverträge (GAV) von rund 55'000 Arbeitnehmer zuständig ist – diese sind bei Bahn-, Bus-, ­Tram-, Schiff- oder Bergbahn-Unternehmen angestellt.

«Es geht darum», sagt er, «die hohe Substanz des schweizerischen ÖV zu erhalten und nicht alles blindlings dem Wettbewerb zu überlassen.» Wettbewerb brauche es nur dort, wo ein Qualitäts- und Sicherheitsprob­lem existiere.

Er feilschte um Sozialpläne

Er selber entstammt dem Arbeitermilieu. Der Grossvater mütterlicherseits gelangte in den 1950er-Jahren aus der armen Nordtoskana in die Schweiz und heuerte bei Von Roll in Gerlafingen SO an. Der Vater kam aus dem Friaul in die gleiche Fabrik, ehelichte die Tochter des Kompagnons aus Italien. Er selber rutschte nach ein paar Semestern Jura zufällig in die Gewerkschaftsbewegung hinein, zufällig gefördert von allerlei Granden der Schweizer Arbeitnehmerorganisationen.

Beim Gewerkschaftsbund des Kantons Solothurn stieg er Ende der 1980er-Jahre ein – dort amtete das Urgestein Ernst Leuenberger als Sekretär. Dann erhielt Giorgio Tuti einen Anruf des damaligen Zentralpräsidenten der Gewerkschaft Bau + Holz Vasco Pedrina: Ob er im Tessin die Industriebereiche der neu formierten Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) entwickeln wolle?

Der Auserwählte freute sich auf Aufbauarbeit und sah sich plötzlich mit Abbrucharbeiten konfrontiert – statt neue GAVs zu verhandeln, feilschte er um Sozialpläne. Mitte der 1990er-Jahre machte Calida ihre Wäschefabrik in Chiasso TI dicht – die Firma hatte dort 260 Mitarbeiter beschäftigt. Im Werk Tenero der Papierfabriken Cham-Tenero wurden 100 Mitarbeiter entlassen. «Das waren Leute, die oft ein Leben lang für die Firma gekrampft haben», sagt Giorgio Tuti, «das ist mir menschlich ­nahegegangen.»

Ernst Leuenberger, mittlerweile Präsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals und damit einer seiner Vorgänger, holte Giorgio Tuti 1997 zum SEV nach Bern und betraute ihn mit dem wichtigsten Geschäft. Im Zuge der Überführung der SBB in eine AG sollte für die Beschäftigten der Bahn der alte Beamtenstatus durch einen GAV ersetzt werden – und Tuti sollte die Verhandlungen leiten. Der stürzte sich in diese herkulische Aufgabe. Nach 22 Tagen Verhandlung unterzeichneten SBB-Boss Benedikt Weibel und Gewerkschaftschef Ernst Leuenberger am 27. Juni 2000 auf der Grossen Schanze in Bern vor dem Gebäude der SBB-Generaldirektion den ersten GAV in der Geschichte der Bahnen, während die SBB-Musik aufspielte.

Jetzt sitzt er ihm Führerstand

Heute kommt der Druck aus dem europäischen Ausland. Europäische Fernbusse mit Dumpingpreisen etwa drängen ins Land, und es gibt Politiker, die diesen künstlichen Wettbewerb befürworten.

Giorgio Tuti schüttelt nur den Kopf. Alles zu liberalisieren, zerstöre diese vom Volk abgesegneten Investitionen in die hochstehende ÖV-Infrastruktur. Aber er weiss auch: Die europäische Liberalisierungswelle endet nicht an der Schweizer Grenze. «Es braucht Schutz der Arbeitnehmer vor Dumpinglöhnen, eine europäische Harmonisierung von Ausbildung und Arbeitszeiten», sagt er, «damit es eben nicht zu einer die Sicherheit gefährdenden grenzenlosen Ausbeutung kommt.»

Giorgio Tuti sitzt nun auch hier im Führerstand. Seit ein paar Wochen ist er Präsident der Eisenbahnsektion der europäischen Transportarbeiter-Föderation ETF, die aus 83 Eisenbahngewerkschaften aus 37 europäischen Ländern besteht und für 850'000 Beschäftigte zuständig ist.

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