Herr Rechsteiner, die Linke fordert lautstark ein Rahmenabkommen mit der EU. Würden Sie es hinnehmen, dass der Europäische Gerichtshof über den Schweizer Arbeitnehmerschutz befindet?
Paul Rechsteiner: Eindeutig nein. Die Arbeitsbedingungen in der Schweiz müssen geschützt werden, der Lohnschutz ist nicht verhandelbar. Auch der Bundesrat scheint das verstanden zu haben.
Es scheint Bestrebungen zu geben, einen Teil der flankierenden Massnahmen zugunsten des Rahmenabkommens aufzugeben.
Wir waren schon in der Vergangenheit Angriffen auf den Lohnschutz ausgesetzt. Nicht nur von Seiten neoliberaler Kräfte in Brüssel, sondern auch von wichtigen Protagonisten der Schweizer Diplomatie. Darum nochmals in aller Klarheit: Über den Lohnschutz wird nicht verhandelt, es gibt in dieser Frage keine Konzessionen, er darf kein Bestandteil eines Rahmenabkommens sein.
Glauben Sie an den Abschluss eines Rahmenabkommens bis Ende Jahr?
Ich bin kein Prophet. Die Verhandlungen bewegen sich auf sehr schwierigem Terrain.
Der Spielraum für Aussenminister Ignazio Cassis ist ziemlich klein. Auch wegen Ihrer harten Haltung.
Die bilateralen Verträge sind ein Erfolgsmodell. Diesen Weg weiterzugehen, ist nicht einfach. Aber dafür sind unsere Amtsinhaber gewählt.
Die Europabegeisterung vieler Ihrer Parteikollegen teilen Sie also nicht?
Die Schweiz hat natürlich ein Interesse an den bilateralen Beziehungen zur EU. Daran hängen viele Arbeitsplätze. Aber nur, wenn der Schutz der Arbeitnehmer funktioniert, kommen die Früchte dieser Verträge auch bei der Bevölkerung an. Darum ist auch der Schutz der Löhne nicht verhandelbar. Das Gleiche gilt auch für die Errungenschaften des Service public in unserem Land.
Ist die Schweiz in Sachen Arbeitnehmerschutz progressiver als die EU-Mitglieder?
Beim Lohnschutz ist die Schweiz dank der flankierenden Massnahmen ein europäisches Vorbild. Grossbritannien hat die Personenfreizügigkeit ohne Lohnschutz eingeführt, mit fatalen Folgen.
Mit «fatalen Folgen» meinen Sie den Brexit.
Das spielte bei der Abstimmung eine grosse Rolle, ja. Der Schutz der Löhne, gute Gesamtarbeitsverträge und ein ausgebauter Service public machen das Erfolgsmodell Schweiz aus.
Also hat die SVP recht, wenn sie die Gewerkschaften zu den wahren Gewinnern der Personenfreizügigkeit erklärt: Die flankierenden Massnahmen haben Ihre Rolle massiv gestärkt.
Gute Gesamtarbeitsverträge mit anständigen Löhnen und Arbeitsbedingungen sorgen dafür, dass nicht nur die Milliardäre und Multimillionäre von den wirtschaftlichen Erfolgen profitieren, sondern auch die Mehrheit mit tieferen und mittleren Einkommen.
Was, wie gesagt, auch den Gewerkschaften mehr Macht verleiht ...
Wir sind Organisationen zur Verteidigung der Lohnabhängigen. Mit starken Gewerkschaften verbessern sich die Löhne und die Arbeitsbedingungen.
Die Bürgerlichen versuchen, das Arbeitsgesetz zu lockern. Halten Sie dagegen?
Mit aller Kraft! Es ist grotesk: Die Wirtschaft läuft rund, dazu kommt der technologische Wandel. Aber was machen die Bürgerlichen? Ein Grossangriff auf die arbeitende, lohnabhängige Bevölkerung folgt auf den anderen. Sie verlangen die Aufweichung des Sonntagsarbeitsverbots oder längere Arbeitszeiten. Als wenn wir in der Schweiz zu wenig lang arbeiten würden! Diese Abbruchübungen werden vor dem Volk keine Chance haben. Das Referendum der Gewerkschaften ist beschlossene Sache, falls das Parlament die Angriffe nicht stoppt.
Die Schweizerische Depeschenagentur (SDA) befindet sich im Arbeitskampf. Was sagen Sie dazu?
Was mich schockiert, ist die Brutalisierung der Arbeitsverhältnisse. Stellen Sie sich das vor: 60-Jährige werden entlassen! Diese Menschen verlieren nach jahrzehntelanger engagierter Arbeit nicht nur ihren Job, sondern auch den Anspruch auf ihre Pensionskassenrente. Die SDA muss über die Bücher. Aber auch politisch müssen wir endlich dafür sorgen, dass über 58-Jährige wenigstens in ihrer Pensionskasse bleiben dürfen. Die erste Gelegenheit dafür ist die Revision des Ergänzungsleistungsgesetzes.
Welche Lösung sehen Sie für die SDA?
Die Schweizerische Depeschenagentur muss zurückbuchstabieren und mit der Belegschaft eine Lösung finden. Denken wir daran, dass ein Nein zu No Billag auch ein klares Signal der Bevölkerung für einen starken Service public bei den Medien ist. Da gehört die SDA dazu. Denkbar wäre eine Stiftung als Trägerin der SDA. Wenn in der Schweiz gestreikt wird, dann ist das, wie in diesem Fall, die Antwort auf gewaltige Missstände. Aber die Solidarität mit den Streikenden ist riesig, weit über die Medienbranche hinaus.
Nein, viel wusste Bundesrat Ignazio Cassis (56, FDP) diese Woche nicht über die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union zu berichten: «Wenn es klappt, dann klappt es. Und wenn es nicht klappt, dann klappt es nicht», umriss der Aussenpolitiker trocken die Chancen auf den Abschluss eines Rahmenabkommens bis Ende Jahr.
Die Beziehungen zur EU haben einen neuen Tiefpunkt erreicht. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (63) erwartet einen Vertragsabschluss noch diesen Frühling – realistisch ist es nicht. Dies räumt auch der Bundesrat ein, der sich im Februar zur Europaklausur zusammensetzen wird.
Bei manchen Politikern in Brüssel wird die ungemütliche Position der Schweiz durchaus wahrgenommen: Jørn Dohrmann (49) sitzt für die rechtspopulistische Dänische Volkspartei im Europaparlament und ist Vorsitzender der parlamentarischen Delegation für die Beziehungen der EU zur Schweiz.
Er teile Cassis’ Zurückhaltung, sagt Dohrmann auf Anfrage. «Auch wenn Herr Juncker auf einem Verhandlungsabschluss im Frühling besteht», sei die Aufmerksamkeit des Kommissionschefs und der gesamten EU auf die Austrittsverhandlungen mit den Briten konzentriert. Die Verhandlungen über den Brexit könnten auch das Verhältnis zur Schweiz bestimmen.
Man müsse daher ungefähr wissen, welche Ergebnisse erzielt werden. «In diesem Sinne, der Ansage von Herrn Juncker zum Trotz, ist es schlau von der Schweizer Regierung, zuzuwarten und Coolness zu zeigen», so der Däne zu SonntagsBlick.
Ähnlich argumentiert Dohrmann auch in Bezug auf den wohl grössten Zankapfel zwischen Bern und Brüssel: die Streitbeilegung. «Ich habe Verständnis für die Schweizer Skepsis, Souveränität an den Europäischen Gerichtshof zu übertragen», so Dohrmann. Auch hier gleiche die Problematik jener der Briten. Es gelte einen Ausgleich zu finden, dem beide Parteien zustimmen können. Simon Marti
Nein, viel wusste Bundesrat Ignazio Cassis (56, FDP) diese Woche nicht über die Verhandlungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union zu berichten: «Wenn es klappt, dann klappt es. Und wenn es nicht klappt, dann klappt es nicht», umriss der Aussenpolitiker trocken die Chancen auf den Abschluss eines Rahmenabkommens bis Ende Jahr.
Die Beziehungen zur EU haben einen neuen Tiefpunkt erreicht. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (63) erwartet einen Vertragsabschluss noch diesen Frühling – realistisch ist es nicht. Dies räumt auch der Bundesrat ein, der sich im Februar zur Europaklausur zusammensetzen wird.
Bei manchen Politikern in Brüssel wird die ungemütliche Position der Schweiz durchaus wahrgenommen: Jørn Dohrmann (49) sitzt für die rechtspopulistische Dänische Volkspartei im Europaparlament und ist Vorsitzender der parlamentarischen Delegation für die Beziehungen der EU zur Schweiz.
Er teile Cassis’ Zurückhaltung, sagt Dohrmann auf Anfrage. «Auch wenn Herr Juncker auf einem Verhandlungsabschluss im Frühling besteht», sei die Aufmerksamkeit des Kommissionschefs und der gesamten EU auf die Austrittsverhandlungen mit den Briten konzentriert. Die Verhandlungen über den Brexit könnten auch das Verhältnis zur Schweiz bestimmen.
Man müsse daher ungefähr wissen, welche Ergebnisse erzielt werden. «In diesem Sinne, der Ansage von Herrn Juncker zum Trotz, ist es schlau von der Schweizer Regierung, zuzuwarten und Coolness zu zeigen», so der Däne zu SonntagsBlick.
Ähnlich argumentiert Dohrmann auch in Bezug auf den wohl grössten Zankapfel zwischen Bern und Brüssel: die Streitbeilegung. «Ich habe Verständnis für die Schweizer Skepsis, Souveränität an den Europäischen Gerichtshof zu übertragen», so Dohrmann. Auch hier gleiche die Problematik jener der Briten. Es gelte einen Ausgleich zu finden, dem beide Parteien zustimmen können. Simon Marti