Monatelang wurde beraten, sondiert, gestritten. Am Freitag schliesslich teilte der Bundesrat der Europäischen Union seine Haltung zum Rahmenabkommen mit.
Ein Abschluss bleibt das erklärte Ziel. In seiner heutigen Form aber ist der Vertragstext nicht mehrheitsfähig. In den kommenden Wochen soll Klarheit geschaffen werden: über die Unionsbürgerrichtlinie, staatliche Beihilfen - und die flankierenden Massnahmen, den wichtigsten Streitpunkt zwischen Bern und Brüssel.
In einem Schreiben an EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (64) besteht der Bundesrat auf einer rechtlichen Garantie des Schweizer Lohnschutzes. Diese Forderung hatten die Gewerkschaften im vergangenen Sommer erhoben - und sich Diskussionen mit Aussenminister Ignazio Cassis (58, FDP) und dem damaligen Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann (67, FDP) verweigert.
Gefahr eines «Schweizer Brexit»
Eine quälende innenpolitische Blockade war die Folge. Die ist nun gelockert, man spricht wieder miteinander. Auch weil die SVP mit ihrer Kündigungs-Initiative eine Vorlage lanciert hat, deren Annahme den kompletten Bruch mit der EU zur Folge haben könnte. «Schweizer Brexit» nennt dies Bundesrätin Karin Keller Sutter (55, FDP).
Adrian Wüthrich (39, BE), SP-Parlamentarier und Präsident der Gewerkschaft Travailsuisse, kommentiert den Entscheid von Freitag als «solid». Der Bundesrat akzeptiere die Bedeutung des Lohnschutzes und teile dies Brüssel klar mit. «Die Differenzen sind aber gross und die kommenden Diskussionen sehr anspruchsvoll.»
Die EU müsse der Schweiz in diesem Punkt entgegenkommen: «Letzten Sommer wollten die freisinnigen Bundesräte den Lohnschutz mithilfe der EU angreifen», nun sei wichtig, dass die Landesregierung der EU klarmache: «Ein Rahmenabkommen gibt es nur mit dem Schweizer Lohnschutz.»
Balzaretti nicht länger tragbar
Die Gewerkschaften sehen sich in ihrer harten Haltung bestätigt. Und nehmen erneut den Schweizer Chefunterhändler Roberto Balzaretti (54) ins Visier: Geht es nach Travailsuisse-Präsident Wüthrich, soll der Chefunterhändler seinen Posten räumen: Balzaretti sei nicht länger tragbar, «er hat unser Vertrauen verloren». Arbeitnehmervertreter fordern schon länger dessen Absetzung; sie werfen ihm vor, den Schweizer Lohnschutz mit EU-Vertretern diskutiert zu haben. «Das aber verbot ihm das Verhandlungsmandat des Bundesrats», so Adrian Wüthrich. «Trotzdem wurde über die flankierenden Massnahmen gesprochen.» Sobald die Gespräche mit der EU wieder anlaufen, «muss ein anderer Beamter die Schweizer Delegation leiten». SP-Nationalrat Wüthrich hat schon an Ersatz gedacht: an den Chef des Staatssekretariats für Migration (SEM), Mario Gattiker (62).
Der parteilose Spitzenbeamte steht bei Wüthrich hoch im Kurs: «Gattiker ist ein offener, kommunikativer und loyaler Staatssekretär», schwärmt er. Als Vertreter des SEM habe er bereits an Verhandlungen mit Brüssel teilgenommen und kenne das Dossier der Personenfreizügigkeit bestens.
Ob Gattiker tatsächlich zur Verfügung steht, ist offen. Er war gestern für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Vertreter des Bundesrats werden wohl bereits kommende Woche mit den Sozialpartnern zusammentreffen. Dann will Wüthrich die Abberufung Balzarettis unverzüglich zur Sprache bringen.