Frisch im Kopf dank Fisch während der Schwangerschaft.
Foto: RDB

Gesetzes-Wirrwarr
Falsche Abrechnungen auf Kosten von Schwangeren

Schwangere zahlen in den ersten 12 Wochen Untersuche für Hunderte Franken oft selbst, die eigentlich die Krankenkasse voll zahlen müsste. Doch meist bemerken sie dies nicht, weil das Gesetz so unklar formuliert ist.
Publiziert: 01.08.2020 um 00:47 Uhr
|
Aktualisiert: 11.09.2020 um 11:59 Uhr
1/7
Laut Krankenversicherungsgesetz (KVG) trägt die obligatorische Grundversicherung alle Kosten, die in Zusammenhang mit einer Mutterschaft anfallen.
Foto: Keystone
Chantal Hebeisen, «Beobachter»

Als Franziska Portmann* merkt, dass sie schwanger ist, geht sie Ende August 2018 zu einer Kontrolle bei ihrem Frauenarzt. Dieser untersucht sie, entnimmt eine kleine Blutprobe und macht einen Ultraschall. Anschliessend schickt der Arzt eine Rechnung an Portmanns Versicherung, die KPT. Diese verrechnet die 170 Franken für den Schwangerschaftsuntersuch an die junge Frau weiter. Portmann zahlt die Rechnung, ohne zu wissen, dass sie dies eigentlich gar nicht müsste. «Auch ich habe diesen Gesetzesabschnitt falsch verstanden und nicht bemerkt, dass die Krankenkasse falsch abgerechnet hat.»

Denn eigentlich besagt Artikel 29 im Krankenversicherungsgesetz (KVG), dass die obligatorische Grundversicherung alle Kosten tragen muss, die in Zusammenhang mit einer Mutterschaft anfallen – und zwar von Anfang an. Doch ein weiterer Artikel im KVG stiftet Verwirrung: Artikel 64, Absatz 7, Buchstabe b. Darin geht es um die komplette Befreiung der Kostenbeteiligung der Schwangeren. Dass also werdende Mütter auch dann keine Franchise und Selbstbehalt mehr zahlen müssen, wenn sie wegen einer Grippe oder Rückenschmerzen zum Arzt gehen. Diese Kostenbeteiligungspflicht entfällt ab der 13. Woche.

Als dieser Artikel 64 im Jahr 2014 in Kraft tritt, entwickelt sich bei vielen Versicherungen die Praxis, dass sie alle Kosten in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten über die Franchise und Selbstbehalt abrechnen, also auch die Mutterschaftsleistungen wie etwa einen Ultraschall oder eine Laboranalyse zum Feststellen der Schwangerschaft. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erläutert deshalb im März 2018 in einem 13-seitigen Kreisschreiben an die Versicherungen, welche Schwangerschaftsuntersuchungen wie abgerechnet werden müssen.

Unter anderem hält das BAG darin auch klar fest, dass sämtliche Untersuchungen bei einer komplikationslosen Schwangerschaft ab Beginn von der Kostenbeteiligung befreit werden müssen. Hat die Krankenkasse zu Unrecht Geld von der Versicherten gefordert, kann sie bis zu fünf Jahre danach eine Korrektur der Abrechnung fordern. Eine Ausnahme bilden lediglich die Fehlgeburt und die Abtreibung. Sie werden vor der 13. Woche als Schwangerschaftskomplikation angesehen, gelten deswegen als Krankheit und sind von der Kostenbeteiligung nicht befreit.

Krankenkasse wollte nach später Fehlgeburt nicht zahlen


Im Nachgang an das Schreiben des BAG sollte nun eigentlich alles klar sein – sollte man meinen. Dass dem nicht so ist, zeigen Beispiele wie das von Franziska Portmann. Die KPT rechnete nicht nur die erste Schwangerschaftsuntersuchung in der sechsten Woche falsch ab. Als die junge Frau in der 18. Woche eine späte Fehlgeburt erleidet, weigert sich die KPT auch, eine Eiseninfusion für 530 Franken ohne Franchise zu verrechnen. Da lupft es Portmann den Hut. Denn hier ist die Gesetzeslage klar, die Versicherung müsste zahlen.

Sie wehrt sich telefonisch. «Alle waren komplett überfordert mit meinem Schicksal, ein Kind so spät in der Schwangerschaft zu verlieren – obwohl dies eigentlich gar nicht Gegenstand meiner Anrufe war. Das Thema der Kostenübernahme haben sie immer wieder auf die lange Bank geschoben.» Schliesslich fordert sie die KPT mit einer neunseitigen Dokumentation auf, die Eiseninfusion zu zahlen. Erst da lenkt die Versicherung ein und zahlt Portmann die 530 Franken zurück. «Es kann doch nicht sein, dass ich mich neben der Trauer um mein verstorbenes Kind gleichzeitig mit Nachdruck darum kümmern muss, zu meinem Recht zu kommen. Es ist nicht Aufgabe der Versicherten, die Krankenkasse an ihre Pflichten zu erinnern.»

Beobachter
Artikel aus dem «Beobachter»

Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch

Beobachter

Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch


Gegenüber dem Beobachter hält die KPT zuerst in einer allgemeinen Stellungnahme fest, dass vor der 13. Woche alle schwangerschaftsspezifischen Leistungen «ohne Kostenbeteiligung übernommen werden». Darauf angesprochen, weshalb dies bei Portmann nicht der Fall war, schreibt die Mediensprecherin, der Arzt habe den Behandlungsgrund mit Krankheit statt Mutterschaft deklariert. Aus den verrechneten Positionen sei für die KPT nicht ersichtlich gewesen, dass es sich um Mutterschaftsleistungen gehandelt habe. Man werde Portmann nun die 170 Franken zurückzahlen.

Für den Aufwand, den Portmann nach der Fehlgeburt betreiben musste, entschuldigt sich die KPT. «Wir bedauern dies sehr – insbesondere nach ihrem Schicksalsschlag.» Weil zwischen der Fehlgeburt und der Eiseninfusion sechs Wochen gelegen haben, habe man diese Behandlung nicht mehr in Zusammenhang mit der Mutterschaft gesehen. Die Mediensprecherin der KPT betont, dass sich die Versicherung an die gesetzlichen Vorgaben halte und in ihrem Rechnungssystem über die notwendigen Systeme verfüge, um korrekt abzurechnen.

Dass ein Arzt den Behandlungsgrund bei einer Schwangerschaftsuntersuchung als «Krankheit» statt «Mutterschaft» deklariert, ist nicht selten. Dies bestätigt Irène Dingeldein, Präsidentin des Verbandes gynécologie suisse. «Es ist uns bekannt, dass hier viele Fehler passieren und wir sind ständig daran, unsere Mitglieder zu informieren.» Ein Grund für die vielen falschen Abrechnungen könnte nicht nur mangelndes Wissen seitens der Ärzte sein, sondern auch das Gesetz. Dieses bestimmt, dass bei einer normal verlaufenden Schwangerschaft nur zwei Ultraschalle von der Krankenkasse vergütet werden. Einen in der 13. und einen in der 20. Woche. «Vielfach kontrolliert man aber schon zwischen der 6. bis 8. Woche mit einem Ultraschall, ob alles in Ordnung ist. Diese Untersuchung kann gemäss heutigem Gesetz zu diesem Zeitpunkt aber nicht als Mutterschaftsleistung abgerechnet werden.»

Macht ein Arzt in der Frühschwangerschaft trotzdem einen Ultraschall, kann er entweder die erbrachten Leistungen nicht abrechnen, oder er deklariert den Ultraschall als Krankheitsuntersuch, wie etwa bei einer Zyste. Der Behandlungsgrund wird dann als Krankheit statt Mutterschaft angegeben – und die Rechnung wird von der Versicherung nicht als Mutterschaftsleistung erkannt.


Ein Dilemma, deren Leidtragende oft die Frauen sind: Sie müssen Rechnungen von mehreren hundert, im Extremfall bis zu mehreren tausend Franken selbst berappen. Für Dingeldein ist klar: «Es bräuchte eine neue, vernünftige Regelung für die Abrechnungen in der Frühschwangerschaft!» Sie empfinde es auch als ein Unding, dass Fehlgeburten als Krankheit wie jede andere betrachtet werden. Das sei für die Frauen oft schwer zu verkraften.

Zweigstellenleiterin informierte nach Fehlgeburt falsch

Dies erlebte auch Ida Hanselmann*. Sie ist bei der Concordia versichert. Im Herbst 2017 erleidet sie in der 8. Woche eine Fehlgeburt. Von der Krankenkasse wird sie anschliessend aufgefordert, die Kosten für vier Schwangerschafts- und Laboruntersuchungen zurückzuzahlen. Laut ihren Angaben entstanden diese, als das Kind noch gelebt hat, sie hätten damit von der Krankenkasse bezahlt werden müssen. Als sie sich wehrt, schreibt ihr die Zweigstellenleiterin zurück, dass bei Schwangerschaften von Anfang an alle Kosten ohne Franchise übernommen werden. «Die Voraussetzung ist, dass das Kind 9 Monate später zur Welt kommt.»
Diese Aussage ist nachweislich falsch, wie die Concordia-Medienstelle heute zugibt. Die Abrechnung von gesetzlichen Mutterschaftsleistungen ohne Kostenbeteiligung gelte ab Beginn der Schwangerschaft und sei nicht abhängig von deren Dauer. «Für die falsche Information unserer Mitarbeiterin bitten wir unsere Kundin in aller Form um Entschuldigung», schreibt die Concordia-Mediensprecherin. Ob die Versicherung tatsächlich zu Unrecht Geld von Hanselmann zurückgefordert hat, lässt sich heute nicht mehr genau überprüfen.

IT-System sollten falsche Abrechnungen verhindern

Die meisten Versicherungen haben heute ausgeklügelte IT-Systeme, die falsch ausgestellte Rechnungen oder unklare Tarifpositionen erkennen und die Rechnung aus dem automatisierten System auslenken. So auch die Assura. Ob die manuelle Verarbeitung dann tatsächlich zu geringeren Fehlerquoten führt, ist nicht ganz klar. Rebekka Wagner* meldet ihre Schwangerschaft im September 2016 der Assura korrekt. Später reicht sie der Versicherung drei Rückforderungsbelege für die gesamte Schwangerschaft ein. Die beiden Rechnungen nach der 13. Woche zahlt die Assura anstandslos, auf den 520 Franken für die erste Untersuchung vor der 13. Woche bleibt Wagner sitzen.

Die Assura gibt zu, dass sie bei Rebekka Wagner nicht korrekt abgerechnet hat und man entschuldige sich dafür. Wagner fordert die Versicherung im Juni 2020 auf, ihr den Betrag zurückzuzahlen, was diese umgehend tut. Damit betrachtet man den Fall bei der Assura offenbar als erledigt. «In den meisten Fällen stellen Ärztinnen die Rechnungen mit schwangerschaftsspezifischen Positionen aus, so dass wir diese ohne Kostenbeteiligung übernehmen», schreibt die Mediensprecherin. «Auch informiert sich die Mehrheit der Schwangeren über die Leistungen in der Grundversicherung und meldet diese dem Krankenversicherer.» Damit schiebt die Assura die Verantwortung den versicherten Frauen zu in einer Angelegenheit, die offenbar so komplex ist, dass selbst ihnen als Spezialisten oft Fehler passieren.

1800 Franken zu viel bezahlt

Auch die CSS und die Helsana haben ein Auslenkungssystem, wie deren Mediensprecher bestätigen. Die CSS allerdings erst seit letztem Jahr, wie ein Leistungsspezialist der Versicherung sagt. Dies, weil in der Vergangenheit schwangere Frauen immer wieder fehlerhafte Abrechnungen erhalten hätten. Eine dieser Frauen ist Andrea Villiger*. Wegen extremer Schwangerschaftsübelkeit muss sie Mitte Februar 2017 ins Spital. Kostenpunkt für die sechs Tage Aufenthalt: Knapp 1800 Franken. Weil Villiger eine Franchise von 2500 Franken hat, schickt ihr die CSS die Rechnung zur Begleichung zu. Telefonisch habe man ihr mitgeteilt, die Kostenbefreiung für Schwangere gelte erst ab der 13. Woche, erinnert sich Villiger.

Das zahlt die Krankenkasse bei einer Schwangerschaft
  • In den ersten 12 Schwangerschaftswochen: Alle Leistungen einer komplikationslosen Schwangerschaft werden ohne Franchisenbeteiligung und Selbstbehalt voll von der obligatorischen Grundversicherung bezahlt.
  • Eine Ausnahme sind Schwangerschaftskomplikationen: Kommt es bis zum Beginn der 13. Schwangerschaftswoche zu Komplikationen wie etwa einer Fehlgeburt, gelten diese als Krankheit, Franchise und Selbstbehalt müssen von der Schwangeren bezahlt werden
  • Ab der 13. Schwangerschaftswoche: Selbstbehalt und Franchise entfallen bei allen Behandlungen – auch wenn sie nichts mit der Schwangerschaft zu tun haben – bis und mit acht Wochen nach der Geburt des Kindes.
  • In den ersten 12 Schwangerschaftswochen: Alle Leistungen einer komplikationslosen Schwangerschaft werden ohne Franchisenbeteiligung und Selbstbehalt voll von der obligatorischen Grundversicherung bezahlt.
  • Eine Ausnahme sind Schwangerschaftskomplikationen: Kommt es bis zum Beginn der 13. Schwangerschaftswoche zu Komplikationen wie etwa einer Fehlgeburt, gelten diese als Krankheit, Franchise und Selbstbehalt müssen von der Schwangeren bezahlt werden
  • Ab der 13. Schwangerschaftswoche: Selbstbehalt und Franchise entfallen bei allen Behandlungen – auch wenn sie nichts mit der Schwangerschaft zu tun haben – bis und mit acht Wochen nach der Geburt des Kindes.

Dass Villiger zu diesem Zeitpunkt bereits über der 13. Woche schwanger ist und dies in den Unterlagen der Versicherung vermerkt war, merkt bei der CSS niemand. Die CSS schreibt zu Villigers Fall trocken: «Das Spital hat den stationären Aufenthalt falsch abgerechnet, deswegen haben wir die Kostenbeteiligung erhoben. Die Leistungen wurden nicht korrekt abgerechnet.» Eine Entschuldigung für die irrtümlich ausgestellte hohe Rechnung sucht man in der Stellungnahme vergeblich. Immerhin: Die Versicherung verspricht nun, Andrea Villiger die 1800 Franken zurückzuzahlen.

Gesetz fordert Kostenbefreiung ab der 1. Schwangerschaftswoche

Eine Lösung dieser unbefriedigenden Situation könnte eine erneute Anpassung des Krankenversicherungsgesetzes sein. Dies fordert die Aargauer Grünen-Nationalrätin Irène Kälin in einer Motion. Frauen sollen künftig ab Beginn der Schwangerschaft von der Kostenbeteiligung befreit werden. So würde auch die Ungerechtigkeit behoben, dass Fehlgeburten als Krankheit taxiert werden.


Auf die Frage, zu wie vielen Mehrkosten eine solche Gesetzesänderung für die Versicherer führen würde, sagen die zehn grössten Krankenkassen unisono, das lasse sich nicht beziffern. Uneins sind sie sich hingegen, ob eine solche Änderung sinnvoll wäre. Die Visana findet etwa, dass sich dadurch die Leistungsabwicklung vereinfachen würde. Andererseits befürchtet man einen möglichen Prämienanstieg durch eine Änderung der Kostenbeteiligung. Ähnlich sieht es die Swica: «Für die Kundenorientierung wäre eine solche Anpassung grundsätzlich begrüssenswert, aber weil die Schwangerschaft nicht ab in der ersten Woche bekannt ist, müssten rückwirkend Leistungen korrigiert werden, was zu einem Mehraufwand aller Parteien führen würde», schreibt die Swica.

Die CSS und die Helsana lehnen die geforderte Gesetzesänderung hingegen ab. Die CSS schreibt, allenfalls könnte in Betracht gezogen werden, dass Schwangerschaftsabbrüche, Fehlgeburten oder Eileiterschwangerschaften generell von einer Kostenbeteiligung ausgeschlossen werden. Dies würde der Praxis entsprechen, die Helsana früher auf eigene Faust betrieben hat und für die sie später vom BAG gerügt wurde: Sie vergütete Kosten bei einer Fehlgeburt in der Frühschwangerschaft ohne Kostenbeteiligung. Dies würden sie gerne auch weiterhin so handhaben, wie Sonja Aerne, Leiterin der ambulanten Leistungen bei der Helsana, sagt. «Wir finden es stossend, dass Fehlgeburten unter Krankheit subsumiert werden.» Die Helsana hoffe zudem, dass mit dem neuen Rechnungsstandard im kommenden Jahr weniger Abrechnungen von Ärzten irrtümlich als Krankheit statt als Mutterschaft deklariert werden.


* Namen der Redaktion bekannt


Fehler gefunden? Jetzt melden

Was sagst du dazu?