Die Schweiz sagt Jein zur Konzernverantwortungs-Initiative. So fasste die Operation Libero, welche für das Anliegen gekämpft hatte, den Ausgang der Abstimmung zusammen. Zwar sagte eine knappe Mehrheit der Stimmbevölkerung Ja, nicht aber eine Mehrheit der Kantone.
Es ist erst das zweite Mal in der Geschichte, dass eine Volksinitiative am fehlenden Ständemehr scheitert. Zuletzt erlitt 1955 ein Volksbegehren des Gewerkschaftsbundes auf diese Weise Schiffbruch. Bei obligatorischen Referenden, für die ebenfalls Volks- und Ständemehr nötig ist, ist der Fall derweil schon öfters eingetreten. Das jüngste Beispiel ist sieben Jahre her: 2013 schmetterten die Kantone einen neuen Familienartikel ab, der die Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie in die Verfassung schreiben wollte.
«Ständemehr gehört auf den Müllhaufen»
Die Initianten der Konzernverantwortungs-Initiative mussten damit rechnen, dass ihr Begehren dasselbe Schicksal ereilt. Doch haben einige der Befürworterinnen und Befürworter offensichtlich Mühe, es zu akzeptieren. Stattdessen blasen sie zum Angriff auf das Ständemehr.
«Das Ständemehr gehört auf den Müllhaufen der Geschichte», schrieb Juso-Präsidentin Ronja Jansen (25) am Sonntagabend wütend auf Twitter. Der Schutz von Minderheiten sei ihr sehr wichtig, erläutert sie gegenüber BLICK. Doch sei es total willkürlich, dabei nur die Kantonszugehörigkeit zu berücksichtigen.
Linke sind schon lange für eine Änderung
Jansen betont, dass die Linken das Ständemehr nicht erst seit gestern in Frage stellen. So hat SP-Fraktionschef Roger Nordmann (47) bereits nach dem Familienartikel-Nein 2013 im Parlament gefordert, über die Bücher zu gehen. Der Vorstoss wurde abgeschmettert.
Vor 172 Jahren sei das Ständemehr vielleicht noch legitim gewesen, findet er. «Heute aber ist es ein undemokratischer Hebel geworden, der rückständige Positionen strukturell begünstigt.»
«Damit stellt man den Föderalismus in Frage»
Nein gestimmt hat damals auch CVP-Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter (56). Sie ist überzeugt, dass das Ständemehr wichtig ist für den Zusammenhalt der Schweiz. «Stellt man es in Frage, stellt man auch den Föderalismus in Frage», sagt sie. «Dann müssen wir auch anfangen, über den Ständerat zu diskutieren!»
FDP-Nationalrat Kurt Fluri stösst ins selbe Horn. Er finde das doppelte Mehr für einen Bundesstaat sehr weise und klug. «Es trägt viel bei zum innerstaatlichen Frieden», twitterte er.
Kleine Kantone immer mächtiger
Doch Tatsache ist: Aufgrund des starken Wachstums der Städte sind die kleinen Kantone durch das Ständemehr im Verlauf der Jahrzehnte tatsächlich immer mächtiger geworden. Die Stimme einer Appenzellerin wog früher 11-mal mehr als diejenige eines Zürcher Stimmbürgers. Heute wiegt sie fast 40-mal mehr.
Schon lange beschäftigen sich auch Politikwissenschaftler deshalb mit der Frage, wie man das heutige System zumindest sanft reformieren könnte. Es liegen diverse Vorschläge auf dem Tisch:
- Qualifiziertes Ständemehr: Das Volk kann von den Kantonen nur überstimmt werden, wenn zwei Drittel – und nicht bloss die Hälfte – der Stände eine Vorlage ablehnen. Die Konzernverantwortungs-Initiative wäre so angenommen worden.
- Qualifiziertes Volksmehr: Nur wenn das Volksmehr knapp ist, spielt das Ständemehr überhaupt eine Rolle. Vorgeschlagen wird, dass ab 52.5 Prozent Ja- oder Nein-Stimmen – das heisst, wenn Befürworter und Gegner mehr als fünf Prozentpunkte voneinander entfernt sind – das Ständemehr nicht mehr berücksichtigt wird. Für die Kovi wäre es bei einem Nein geblieben.
- Stärkeres Mehr: Sagt das Volk Ja und die Kantone Nein – oder umgekehrt –, zählt das Ergebnis, das klarer ausgefallen ist. Die Kovi wäre abgelehnt worden.
- Gewichtete Stimmen: Es hat nicht mehr jeder Kanton eine Stimme und jeder Halbkanton eine halbe, sondern die Kantone erhalten unterschiedlich viele Standesstimmen je nach Zahl der Einwohner oder der Stimmberechtigten. Zürich könnte beispielsweise fünf Stimmen erhalten, Appenzell-Innerrhoden eine. Die Kovi wäre so sehr wahrscheinlich angenommen worden.
- Minderheiten-Modelle: Nebst den Kantonen erhalten auch ausgewählte Minderheiten eine Standesstimme – zum Beispiel die grössten Städte oder die lateinische Schweiz. Je nach Ausgestaltung hätte das für die Kovi-Befürworter ebenfalls den Sieg bedeutet.
Juso-Präsidentin Jansen zeigt sich offen für eine der obigen Lösungen. «Das wäre sicher schon mal ein Fortschritt», findet sie. Wichtig sei, dass die Diskussion jetzt wieder angestossen werde.
Es geht auch umgekehrt
Mehr als eine Debatte erhofft sich realistischerweise allerdings auch Jansen nicht. Denn um das Ständemehr abzuschaffen oder anzupassen, müsste die Verfassung geändert werden – und dafür braucht es wiederum ein Ständemehr.
Was die Linken derweil etwas besänftigen dürfte: Es sind nicht immer nur die Kantone, welche das Volk überstimmen. Auch der umgekehrte Fall ist schon mehrfach eingetroffen. Zuletzt hat bei der Abstimmung über die Abschaffung der Heiratsstrafe 2016 eine Mehrheit der Kantone zwar Ja gesagt – doch das Volk sagte Nein.