Unterricht im Kinderzimmer
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Mancher Schüler überfordert:Unterricht im Kinderzimmer

Wie Familie Untersander mit dem Unterricht zu Hause zurecht kommt
«Letzte Woche war es viel zu viel»

Die Schulen sind zu – doch der Unterricht geht weiter: Der neue Schulalltag in Zeiten von Corona ist für alle Beteiligten eine Herausforderung. BLICK war zu Besuch bei der fünfköpfigen Familie Untersander.
Publiziert: 28.03.2020 um 16:01 Uhr
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Aktualisiert: 28.03.2020 um 16:09 Uhr
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Der 13-jährige Timo Untersander lernt jetzt am Computer statt im Schulzimmer.
Foto: Sven Thomann
Lea Hartmann

Timo (13) ist frustriert. Auf seiner dreiseitigen Checkliste hat er fast alles abgehakt, nur in Mathe gibt es noch etwas zu tun. «Wir nehmen gerade die Koordinaten durch und ich komme überhaupt nicht draus», sagt der Sekschüler aus Lindau ZH. In der Schule hätte er kurz die Hand aufgestreckt. Doch seit zwei Wochen muss Timo wie alle Schülerinnen und Schüler im Land daheim lernen. Darum muss jetzt sein Vater helfen. Der komme zum Glück draus, sagt Timo. Und ausserdem, fügt er an, müsse man bei ihm auch nicht immer anstehen und warten, wie sonst beim Lehrer in der Schule.

Vater Michael Untersander (52) unterstützt seinen Sohn auch in anderen Belangen. Der IT-Fachmann hat ihm einen zusätzlichen Monitor aufs Pult gestellt. Schliesslich verbringt Timo, leidenschaftlicher Unihockeyspieler, nun viele Stunden am Tag am PC. Im virtuellen Klassenzimmer kann er mit der Lehrerin chatten und Arbeitsblätter herunterladen. Der wöchentliche Klassenrat findet neu per Videokonferenz statt.

Akkordeon-Unterricht per Skype

Auch bei Timos Schwester Naja (11) spielt sich neu ein grosser Teil des Unterrichts am Bildschirm ab. Jeden Morgen schickt ihr Lehrer eine Aufgabe. Ansonsten kann sie sich relativ frei selbst einteilen, was sie wann lernen möchte. Eben erst hat die Fünftklässlerin ihr Puppenhaus leergeräumt und frisch gestrichen. Dort sind nun ihre Schulhefte verstaut.

Das Mädchen hat sich gut auf die neue Situation eingestellt. Den Akkordeon-Unterricht gibts nun per Skype und in der Stube haben die Eltern für die Kunstturnerin ein kleines Reck aufgestellt. Aber Naja vermisst ihre Freundinnen. «Es ist schon langweilig», sagt sie. Auch wenn sie nun mehr Zeit hat, mit ihrem kleinen Bruder Andri (8) zu spielen.

Lehrerin schickt Aufgaben per Post

Der Zweitklässler ist wie seine grosse Schwester vom Fernunterricht bisher eher unterfordert. «Im Wochenplan ist für ein Aufgabenblatt 15 Minuten vorgesehen. Andri ist nach drei Minuten fertig», erzählt seine Mutter Dominique Untersander (47). Die ausgebildete Sportlehrerin hat im Erdgeschoss des Hauses im Lindauer Dorfkern ein Studio, in dem sie unter anderem Pilates unterrichtet. Nun aber ist sie vor allem mit der Kinderbetreuung beschäftigt – und das Studio wurde zum Unihockeyraum umfunktioniert.

Während Naja und Timo relativ selbstständig arbeiten, braucht der Jüngste noch viel Unterstützung. Zudem lernt er im Gegensatz zu seinen Geschwistern noch etwas mehr abseits des Computers. Jeweils am Freitag versendet seine Lehrerin neue Unterlagen und Spielmaterial und die Eltern schicken den abgehakten Wochenplan und die Aufgabenblätter zurück.

Grosse Herausforderung für Lehrer

Dagmar Rösler (40), Präsidentin des Lehrerverbands Schweiz, ist stolz, wie die Schulen die Krise meistern. «Die Lehrerinnen und Lehrer zeigen sehr viel Fantasie und Ideenreichtum», sagt sie. Das stellt auch Rahel Tschopp (49) von der Pädagogischen Hochschule Zürich fest. Sie leitet eine Beratungshotline, welche die Hochschule für Schulen und Lehrer in der ganzen Deutschschweiz eingerichtet hat. Auch die Schule Lindau steht in engem Austausch mit der Hochschule. Lindau sei ein Beispiel für eine Schule, die durch Corona einen «riesigen Schritt» in Sachen Digitalisierung gemacht habe, sagt Tschopp.

Zwar stand den meisten Lindauer Sekschülern schon während des normalen Unterrichts ein eigenes Tablet zur Verfügung. Gebraucht haben sie es aber nur selten. Jetzt entdeckt die Schule notgedrungen ganz neue Möglichkeiten, die die Technik bietet. «Auch für uns Lehrer war da vieles Neuland», sagt Monika Dinkelmann (52), Klassenlehrerin von Timo. Die ersten Tage seien für sie deshalb alle sehr stressig gewesen. Sie spricht von einer «Challenge» – wobei im Gespräch rasch klar wird, dass die Seklehrerin Herausforderungen nicht abgeneigt ist.

«Letzte Woche war es viel zu viel»

Die Schülerinnen und Schüler kämen mit der neuen Situation meist ebenfalls gut zurecht. «Erstaunlich gut», meint Dinkelmann. Einige hätten allerdings mit dem Alleinsein zu kämpfen. Zudem falle es sehr pflichtbewussten Schülern, die alles perfekt machen wollten, schwer, abzuschalten, wenn zwischen dem Daheim und der Schule nur noch ein paar Klicks liegen. Schwierig ist es auch, wenn man sich plötzlich selber einteilen muss, wann man was lernt. Die Lehrer würden deshalb Checklisten anbieten für Schüler, die froh sind um etwas mehr Führung, sagt Dinkelmann. «Gerade für die Schwächeren ist das eine riesige Hilfe.»

Auch Timo war zuerst überfordert. «Letzte Woche war es viel zu viel», sagt er. Inzwischen sei es etwas besser, wobei die Suche nach den Aufgaben im virtuellen Schulzimmer manchmal noch immer einem Labyrinth gleiche. Seine Eltern erzählen, dass der Sekschüler zu Beginn im von den Lehrern verschickten Material versunken sei. «Man hat ihn fast nicht mehr aus seinem Zimmer gebracht», erzählt sein Vater. Aus seiner Sicht hingen die Kinder derzeit noch etwas gar viel an «den Geräten».

Extra-Stundenplan für Langschläfer

Die Lehrerinnen und Lehrer nützen die spezielle Ausgangslage aber auch für etwas unkonventionelle «Ufzgi». Statt nur Arbeitsblätter auszufüllen, muss Timo nun beispielsweise jede Woche seine Familie bekochen. Letztes Mal gabs Spaghetti «Cinque Pi». Die Beweisfotos und die Bewertung der Eltern schickte der Schüler per Mail an die Hauswirtschaftslehrerin.

Auch im Kindergarten und auf Primarstufe, wo die Schüler seltener ein eigenes Tablet oder einen Laptop haben, werden die Lehrer kreativ. Tschopp von der PH Zürich berichtet von einer Kindergärtnerin, die mit den Kleinen via Whatsapp-Sprachnachrichten in Kontakt bleibt. An einer anderen Schule haben die Lehrpersonen ihren Erst- bis Drittklässlern Tagespläne zusammengestellt – in zwei Varianten: einmal für Frühaufsteher und einmal für Langschläfer. Bereits sind zudem Websites online, auf denen Lehrer Tipps für den Unterricht daheim austauschen. «Die Lehrpersonen sind ausgesprochen engagiert», fasst Tschopp zusammen. Lehrerverbands-Präsidentin Rösler windet zudem auch den Eltern ein Kränzchen. «Der Zusammenhalt und das Verständnis ist sehr gross, auch von deren Seite», stellt sie fest.

Vorfreude auf den Normalzustand

Dabei ist es für viele Familien eine grosse Herausforderung, wenn das eigene Heim plötzlich nicht nur Büro, sondern gleichzeitig auch Schule ist. Die Untersanders konnten sich wegen ihrer Jobs gut organisieren. Doch ihnen ist bewusst, dass das nicht bei allen so leicht ist. Nicht nur einmal stellen sie zudem fest, dass das Leben im Ausnahmezustand ja erst begonnen habe. Wer weiss, wie die Stimmung im Haus ist, wenn ein paar Wochen ins Land gezogen sind.

Timo und seine Geschwister jedenfalls freuen sich schon darauf, endlich wieder in die Schule zu können. Als er erfahren habe, dass die Schulen schliessen, habe er sehr gejubelt, erzählt der Sekschüler. «Aber es hat sich rausgestellt, dass es doch nicht so cool ist», meint er entwaffnend ehrlich. «Wir würden, glaube ich, alle lieber wieder zur Schule.»

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