Sie wettern lautstark gegen «staatliche Knechtung», gegen die «Diktatur der Landesregierung», gegen Medien, ja gegen jegliche Massnahmen im Kampf gegen die Verbreitung des Coronavirus. Sie kommen aus allen Schichten, vom Akademiker bis zum Büezer – und es werden immer mehr. Die neuen Bürgerbewegungen.
Sie nennen sich «Freunde der Verfassung», «Mass-Voll», «Aktionsbündnis der Urkantone» oder «Netzwerk Impfentscheid» und protestieren seit Monaten in den kleinsten Gemeinden und den grössten Städten der Schweiz. Sie sind gerade das meistdiskutierte Politphänomen.
Hoffnung auf Schub für SVP-Anliegen
Ein Phänomen, das vorwiegend bei der SVP auf grosses Interesse stösst. Aus Sicht der Partei sei es zu begrüssen, dass sich die Bürger politisierten, sagen wichtige Exponenten. «Sie wollen einen schlanken Staat – genau wie wir», meint SVP-Nationalrat Gregor Rutz. Nicht wenige Parteimitglieder erhoffen sich durch die Bürgerbewegungen einen regelrechten Schub für ihre Anliegen.
Das hat die SVP dringend nötig: Bis auf die gewonnene Abstimmung zum CO2-Gesetz – und auch dieser Erfolg kam nur mit gütiger Mithilfe der Bauern zustande – war es in letzter Zeit ruhig geworden um die grösste Partei des Landes. Angesichts der tiefen Zuwanderung und dem Ende der Verhandlungen mit der EU schienen weder die Ausländerfrage noch Europa geeignete Themen, um die eigene Wählerschaft zu mobilisieren.
Der Wind hat gedreht. Politgeograf Michael Hermann sagt: «Seit Monaten stellen wir eine Re-Politisierung konservativer Stimmbürger fest. Das führt dazu, dass die Themen der SVP wieder mehr Aufmerksamkeit erhalten.» Dabei sind die Gemeinsamkeiten zwischen SVP und Bürgerbewegungen kaum zu übersehen: weniger staatliche Eingriffe, mehr Freiheit, mehr Selbstbestimmung.
Rutz spricht von «interessantem Momentum»
Josef Ender (51) vom «Aktionsbündnis Urkantone», einer der Organisatoren der Corona-Kundgebungen der vergangenen Monate, glaubt: «Viele fühlen sich von den Regierungen im Stich gelassen.» In der Bewegung seien zahlreiche Menschen aktiv, die vorher noch nie politisiert hätten. «Die vielen Verbote und Vorschriften haben das Fass zum Überlaufen gebracht.»
SVP-Nationalrat Rutz spricht von einem «interessanten Momentum», das die Bürgerbewegungen geschaffen haben. «Das kann der SVP helfen, ihre Anliegen wieder besser zu platzieren.»
Zum Beispiel beim Referendum gegen das Covid-Gesetz. Dieses wird die SVP aller Voraussicht nach unterstützen – und damit auf den fahrenden Zug aufspringen, den die «Freunde der Verfassung», das «Aktionsbündnis Urkantone», «Netzwerk Impfentscheid», «Mass-Voll» und die Junge SVP ins Rollen gebracht haben.
Gemeinsames Misstrauen gegenüber Massenmedien
Diese haben innerhalb von nur drei Wochen deutlich mehr als die erforderlichen 50'000 Unterschriften gesammelt und damit zum zweiten Mal ein Referendum gegen das Covid-Gesetz erzwungen. Die SVP dürfte sich darob die Hände reiben: Nichts gefällt ihr besser, denn als Winkelried gegen das politische Establishment anzutreten. Selbst eine Niederlage am 28. November dürfte sie als Erfolg verkaufen.
Gemeinsamkeiten zwischen der SVP und den Bürgerbewegungen zeigen sich auch im Misstrauen gegenüber den Massenmedien. Seite an Seite mit den neuen Gruppierungen engagiert sich die grösste Partei des Landes derzeit gegen das Medienförderungsgesetz, das einen Ausbau der Subventionen für Zeitungen und Zeitschriften vorsieht.
Allerdings: Die Bewegungen, die derzeit Tausende Bürger mobilisieren, wollen sich keinesfalls zum Steigbügelhalter der grössten Partei des Landes degradieren lassen.
SVP «mitverantwortlich für die aktuelle Misere»
Nicolas A. Rimoldi (26), Co-Präsident der Jugendbewegung «Mass-Voll», gibt sich selbstbewusst: «Wir sind nur so gross geworden, weil die etablierten Parteien die Position der Jugend nicht vertreten.» Die politische Ausrichtung der Mitglieder spiele dabei keine Rolle – von links-grün bis konservativ sei alles dabei. Schon jetzt sei man stärker als jede Jungpartei, behauptet der Luzerner.
Rimoldi begrüsst es, dass die SVP «dazugelernt» habe und das Referendum gegen das Covid-Zertifikat voraussichtlich unterstütze. «Aber wenn es der SVP ernst gewesen wäre, hätte sie sich bereits beim ersten Covid-Referendum engagiert.» Insofern sei die Partei «mitverantwortlich für die aktuelle Misere».
Josef Ender vom «Aktionsbündnis Urkantone» ist diplomatischer. «Wir sehen uns nicht als Gehilfen der SVP», sagt er. Doch Ender sagt auch, und es klingt etwas hilflos: «Die SVP ist noch die einzige Partei, die den Regierenden auf die Finger schaut. Sonst gibt es ja niemanden mehr.»
Bald ernsthafte Konkurrenz für die SVP?
Die «Freunde der Verfassung» wollten sich gegenüber SonntagsBlick nicht zur Frage äussern, welche parteipolitischen Sympathien in ihren Reihen bestehen. Bekannt ist, dass deren Exponenten neben SVP-Politikern auch Nationalräte anderer Parteien kontaktiert haben, diese von einer Zusammenarbeit aber nichts wissen wollten. Der SVP solls recht sein.
Der Zürcher Nationalrat Alfred Heer (59) etwa sieht gerade in der Breite der Bewegung einen Vorteil. «Politisch ist es manchmal gut, wenn der Absender nicht die SVP ist, sondern vielleicht die ‹Freunde der Verfassung›.» Diese würden eine breitere Klientel ansprechen als die SVP. «Das kann uns bei Referenden oder Initiativen helfen», konstatiert Heer trocken.
Umgekehrt stellt sich die Frage: Erwächst der Partei angesichts der politischen Schlagkraft dieser Gruppierungen eine ernsthafte Konkurrenz? Unvergessen bleibt die Warnung von Partei-Übervater Christoph Blocher (80), rechts der SVP dürfe es keine Parteien geben.
Vizepräsident Franz Grüter (58) winkt ab: «Das wäre nur dann eine Gefahr, wenn wir uns als SVP so stark einmitten würden, dass rechts von uns eine Lücke entsteht. Diese Tendenzen sehe ich nicht.»
Hinzu kommt, dass es die SVP in zwei Jahren noch geben wird – während die Existenz der Bürgerbewegungen ungleich stärker von den äusseren Umständen abhängt.
Sollte die Pandemie in zwei Jahren Geschichte sein, dürfte das Interesse an ihnen deutlich erlahmen. Und damit auch ihre politische Schlagkraft.