Frank A. Meyer – die Kolumne
Verantwortung

Publiziert: 23.01.2022 um 09:35 Uhr
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Aktualisiert: 29.01.2022 um 18:48 Uhr
Frank A. Meyer

In Zürich zittern die Freisinnigen. Ein Grüner könnte die FDP um einen ihrer beiden Sitze in der Stadtregierung bringen. Sensationell ist das nicht. Die Grünen sind auf einem Vormarsch, der vielerorts zu beobachten ist. Nicht nur in der Schweiz.

Und der Freisinn? Wofür steht er? Womit begeistert die Gründungspartei des Bundesstaates die Bürgerinnen und Bürger hier und heute?

Die Grünen begeistern: mit grün beseelter Jugendlichkeit, mit religiösem Eifer, mit dem dazugehörenden Gestus der Unfehlbarkeit, mit dem Anspruch, die Welt zu retten, in Zürich wie überall.

Ja, die Grünen sind die neue Internationale, die neue politische Avantgarde, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Arbeiterbewegung. Auch sie faszinierte und mobilisierte die Jugend.

Wie die Grünen heute die Umweltgerechtigkeit, verfochten die Linken damals soziale Gerechtigkeit.

Umweltgerecht, sozialgerecht, menschengerecht: Lässt sich einer dieser Werte wegdenken, ohne dass die Gesellschaft existenziellen Schaden nähme?

Auch die Kraft der frühen Kommunisten und Sozialisten entströmte einem religiösen Impetus: Die Revolution führt durch die Diktatur des Proletariats in die klassenlose Gesellschaft.

Vom Elend der herrschenden Verhältnisse durchs Fegefeuer ins Paradies.

Die grüne Heilslehre nimmt das Elend der herrschenden Verhältnisse ebenfalls zum Ausgangspunkt: Durchs Fegefeuer des Verzichts muss die Gesellschaft gehen, um in Rousseaus Garten den Frieden mit der Umwelt – mit der Welt! – zu finden.

Doch wie ging es eigentlich weiter mit der Arbeiterbewegung? Wie erreichte sie den sozialen Frieden, der die modernen demokratischen Gesellschaften von heute prägt – mit stets neuen Forderungen, mit stets neuen Konflikten, mit stets neuen Lösungen, aber friedlich?

Der moderne Sozialstaat ist das Resultat einer politischen Transplantation: Das linke Herz für Gerechtigkeit wurde ersetzt durch ein linkes Herz für Vernunft; die Revolutionäre durch Reformer; die Kommunisten durch Sozialdemokraten, später auch durch Christdemokraten und sozial sensible Freisinnige.

Die Umstürzler wurden ersetzt durch demokratische Verantwortungsparteien.

Verantwortungsethik statt Gesinnungsethik.

Daraus folgt: Das grüne Revoluzzertum samt Umweltschwärmerei und gepachtetem Wahrheitsanspruch muss ersetzt werden durch die bürgerliche Vernunft der Verantwortungsparteien.

Erst dann ist die Ergänzung des Sozialstaates durch den Umweltstaat auf freiheitsverträgliche Weise möglich. Erst dann wird das elitäre Milieu, das den ökologischen Aktivismus zu seiner Sache gemacht hat, abgelöst durch eine breite Bürgerschaft.

Das Lastenrad besteigen, auf Fleisch verzichten, die Heizung herunterdrehen, horrende Energiepreise zahlen, Landschaften mit Windrädern verunstalten, Vorschriften und Einschränkungen der Freiheit hinnehmen, mit schlechtem Umweltgewissen einschlafen und aufwachen, den Jugendgottesdiensten von Fridays for Future beiwohnen – all diese Anmassungen einer ins Religiöse entschwebten Protestbewegung wollen in Mass und Wert der demokratischen Welt verwandelt werden.

Erst dann sind sie wirkmächtig, weil verwurzelt im bürgerlichen Bewusstsein.

Im Bürger.

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