Frank A. Meyer – die Kolumne
Verächter der Demokratie

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Publiziert: 22.11.2020 um 01:26 Uhr
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Aktualisiert: 12.12.2020 um 19:20 Uhr
Frank A. Meyer

Auf den höchsten Etagen der deutschen Politik herrscht blankes Entsetzen: Abgeord­nete der rechtspopulistischen AfD hatten diese Woche pöbelnde Protestbürger in das ­Gebäude des Bundestages geschleust. Getarnt als harmlose Besucher, bedrängten sie ­Parlamentarier, darunter den Wirtschafts­minister, fotografierten, filmten, brüllten und beleidigten.

Ein Übergriff auf den heiligsten Bezirk der Demokratie in Deutschland.

Inakzeptabel, unentschuldbar, skandalös.

Die Empörung über die rechtspopulistische Aktion hat viel mit der geschichtlichen Er­fahrung zu tun, für die der Reichstag steht, das Gebäude des Deutschen Bundestages: Aus einem seiner Fenster rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November 1918 das Ende des Kaiserreichs und die erste Deutsche Republik aus. Es war die Geburts­stunde der deutschen Demokratie. Kaum fünfzehn Jahre später, in der Nacht auf den 28.Februar 1933, stand der Reichstag in Flammen, gemäss Forschungen des Schweizer Historikers Walther Hofer das Werk von Nazi-Brandstiftern. Es bedeu­tete das Ende des bürgerlich-demokra­tischen Rechtsstaats: Ein «Ermächtigungsgesetz» übertrug Adolf Hitler die ­totale Macht.

Doch nicht nur die Geschichte bestimmt die Sensibilität, mit der die demokratische Politik auf die Provokation der Populisten reagierte. In der westlichen Welt werden derzeit fundamentale Werte infrage gestellt: In den USA streitet Donald Trump ab, die Wahl verloren zu haben, und beschimpft den Sieger Joe Biden als Be­trüger. In Ungarn und Polen demontieren autoritäre Regierungen systematisch den Rechtsstaat und installieren illiberale ­Regime. Demokratien von Schwellen­ländern wie Brasilien, Indien und der ­Türkei verwandeln sich in Führer- systeme. Der Rechtspopulismus wächst und wabert.

Und das Fatalste: Der Angriff auf die ­Demokratie kommt aus den Demo­kratien selbst.

Sind Pöbeleien durch Eindringlinge im Parlament der ­Bundesrepublik ausschliesslich rechten Ursprungs? 2007 warfen Kapitalismus-Gegner Geldscheine von der Tribüne. 2019 ketteten sich Jugendaktivisten an der ­Besucherkuppel des Reichstages fest und forderten eine stärkere Repräsentation der Jungen. 2019 legten sich Klimaschützer im Plenarsaal symbolisch tot auf den Boden. 2020 verteilten Aktivisten von ­Extinction Rebellion im Reichstag Flugblätter an Parlamentarier.

Zwar bedrängten diese Protestler Par­lamentarier, Minister oder Personal nicht körperlich. Doch man stelle sich vor, die links- und klimabeseelten Übergriffe wären AfD-Aktivisten eingefallen! Was wäre da los gewesen im Berliner Macht-­Milieu?

Die Verachtung der Institutionen von ­Demokratie und Rechtsstaat ist kein ­Monopol der äusseren Rechten. Sie findet sich als Kampfmittel ebenso im Aktionsfeld der Linken, neuerdings vor allem der ­Klima-Kämpfer, die für sich das ab­solut Gute in Anspruch nehmen: die Rettung der Welt.

Und selbst wenn es links aussen gewalttätig zugeht – als mildernder Umstand, als Entschuldigung schwingt stets mit, dass die Randale schliesslich das Positive zum Ziel habe. Man möge doch bitte in Politik, Medien und Justiz Gnade walten lassen.

Das Paradebeispiel dafür, dass linke Agitation gegen bür­ger­lichen Parlamentarismus ­augenzwinkernd, wenn nicht lobend zur Kenntnis genommen wird, stammt von einem Schweizer: Der Regisseur Milo Rau inszenierte in Berlin vor dem Reichstag die Erstürmung des Parlaments. Das Datum ­seiner Theateraktion: exakt 100 Jahre nach dem legendären Sturm auf das Winterpalais in Sankt Petersburg am 7. November 1917.

Der Putsch der Kommunisten, nachgestellt als Putsch gegen die erste wirklich funk­tionierende deutsche Demokratie: als ­Erstürmung von Deutschlands demokra­tischer Herzkammer – des Reichstags.

Raus Mittäter befeuerten die Theater-­ Tat mit dem Ruf: «Wir machen hier kein Theater!»

Ihre Parole: «Demokratie für alle und ­alles.» Die dummdreiste Begründung: «Unsere Demokratie ist ja nur möglich durch Ausbeutung.»

So wird von links und von rechts Ver­achtung gezeigt für die Institutionen der ­bürgerlichen Demokratie. Und die bürgerlichen Demokraten sind empört.

Über die Verachtung von rechts.

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