Das schlimmste Wort hat nur fünf Buchstaben: Krieg. Aber es provoziert Geschwätzigkeit. Die unermüdlichste Schwatzbase der Schweizer Politik steuerte den dümmsten Satz bei: «Durch die Teilnahme an den Sanktionen ist die Schweiz jetzt im Krieg!» Flüchtlinge aus Kiew können Christoph Blocher darüber informieren, was das ist: Krieg.
Ja, 24 Autostunden von Herrliberg entfernt herrscht Krieg, und zwar ganz real, mit echten Bomben und wirklichen Toten. Der Schweizer Armeechef Thomas Süssli versucht sich vorzustellen, wie die Schweiz dastünde, müsste sie sich der Russen erwehren: «Mit unseren heutigen Mitteln wäre nach ein paar Wochen Schluss.»
1989 verlangten 35,6 Prozent der Stimmbürger die Abschaffung der Armee. 33 glückliche Friedensjahre später – einzig unterbrochen vom Bürgerkrieg auf dem Balkan – ergeben die soeben bestellten amerikanischen Kampfflieger plötzlich fatalen Sinn: Europa benötigt dringend schlagkräftige Armeen. Die schweizerische gehört dazu.
So ist es nun mal: Die Schweiz gehört dazu, auch wenn sie sich vor kurzem noch durch Verweigerung eines Rahmenabkommens von der EU distanziert hat. Jetzt aber gilt es ernst. Und wenn es ernst gilt, weiss sogar die kapriziöse Eidgenossenschaft, dass die anderen – die da draussen! – ihr nützlich sind. Und was ihr nützt, das frommt ihr: Im Brüssel-fernen Bern fordern Politiker ungestraft «Militärkooperation mit der EU».
Dennoch braucht die Schweiz keine andere zu werden. Nur ein Neudenken ihrer Rolle in Europa ist vonnöten. Auch muss sie sich vom Narrativ verabschieden, das Diplomatie und Politik jahrzehntelang pflegten: die EU, ein verächtliches, aber leider zählebiges Staatenungetüm, dummerweise nicht wegzudenken als Raum fürs Geschäft und weitere Kommoditäten, beispielsweise in der Forschung, ansonsten aber zu meiden wie das Weihwasser durch den Teufel.
Es ist nun mal so, dass die solideste Demokratie des Erdkreises am liebsten auf den Erdkreis verzichtet hätte, ganz besonders in den vergangenen drei Dezennien: Der Beitritt zur Uno und die Abschaffung des Bankgeheimnisses – der Schweiz von aussenempfohlene, ja aufgezwungene Selbstverständlichkeiten, die man mit griesgrämiger Miene nachvollziehen musste. Ganz wie gerade jetzt die Sanktionen des Westens gegen Russland, wiewohl diese doch den gehätschelten Oligarchen in Genf, Zug, Zürich und Lugano arg zusetzen – und damit auch den geldgetriebenen Schweizer Gastgebergebräuchen.
Was soll aus dieser international so gnadenlos gescholtenen und ungnädig gemassregelten Schweiz nur werden?
Die Schweiz der wirklichen Wirklichkeit.
Otto Schily, Deutschlands intellektueller Elder Statesman, schlägt die Schweiz als Modell für eine Ukraine der Zukunft vor. Genau das ist die wirkliche Schweiz: das demokratische Modell – das Modell für demokratische Kultur. Kein Exportartikel, aber politisch gelebte Erfahrungen für die vielkulturelle Welt.
Politische Kultur? Vielkulturelle Welt? Geht es denn nicht – wie die Marxisten einst behaupteten, wie die Neoliberalen immer noch behaupten – im Grunde nur um Ökonomie? Nein, das sind Ideologien von gestern. Zwar bleibt die wirtschaftliche Kraft, die Kreativität des Unternehmertums rund um den Globus von grosser Bedeutung. Doch der Primat gehört der Politik – und Politik ist Kultur, wie die Demokratiedenkerin Hannah Arendt feststellt, wenn sie Freiheit mit Politik gleichsetzt.
Genau dies hat die Schweiz im Angebot, und zwar ganz vorne im Schaufenster. Leider liegt die Gier nach Geld um jeden Preis, selbst um den Preis der Ehrbarkeit, verlockend in derselben Auslage. Doch diese Schwäche lässt sich im Zaum halten: durch Politik gleich Freiheit gleich Kultur gleich Anstand.
Damit wäre die Schweiz nicht nur modellhaft demokratisch. Sondern auch modellhaft anständig.
Darf man in solchen Zeiten nicht mehr träumen?