Frank A. Meyer – die Kolumne
Toll, toll

Publiziert: 30.01.2022 um 00:53 Uhr
Frank A. Meyer

Die Bonny-Stiftung fordert einen «Bürgerrat». Er soll unabhängig sein von Verwaltung und Parlament; er soll Vorschläge der Politik auf Bundesebene prüfen; er soll Gegenvorschläge entwickeln und vertreten. All dies will die Stiftung des langjährigen Berner FDP-Nationalrats Jean-Pierre Bonny.

Soll das Parlament, das Entscheide fällt, ergänzt werden durch ein Parlament, das Entscheide vorschlägt?

Auch die Grünen fordern einen Bürgerrat. Sie nennen ihn «Klimarat». Er soll Veränderungen der Bundesverfassung in die Wege leiten, ebenso neue Gesetze. Für beides müsste der grüne Bürgerrat nicht erst mühselig Unterschriften sammeln. Anders als einfache Bürger würde er über ein direktes Zugriffsrecht auf die direkte Demokratie verfügen.

Klingt das alles nicht einfach ganz wunderbar? Leuchten da nicht die Vorboten völlig neuer Zeiten am demokratischen Horizont?

Bürgerzeiten?

Nein, die Schweiz braucht keinen Bürgerrat.

Die Schweiz i s t ein Bürgerrat!

Bürger bestimmen und beeinflussen die Schweizer Politik in vielfältigster Weise: durch Volksinitiativen und Referenden; in Parteien, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden; in NGOs von Greenpeace über Amnesty International bis zur evangelischen Kirche; in den Mitregierungsstrukturen von Kantonen und Gemeinden mit all ihren Schulkommissionen, Baukommissionen, Polizeikommissionen.

Die Schweiz ist durchdrungen von Bürgergremien.

Ausserdem sind da ja noch der Nationalrat und der Ständerat, die existenziellen Bürgerräte der Demokratie. Auch der Bundesrat ist Bürgerrat: eine Regierung beratender Bürger.

Der Klimarat der Grünen aus 200 Bürgerinnen und Bürgern, dem auch Ausländer angehören sollen, verfolgt dasselbe Ziel wie der Bürgerrat der Bonny-Stiftung: Ein neues Gremium soll Interessenvertretern politische Legitimation verschaffen als exklusive Einflusselite – als offizielle Influencer.
Muss die Schweizer Demokratie auf Zukunft getrimmt werden?

In der «Neuen Zürcher Zeitung» durfte jüngst ein Wirtschaftsprofessor von der «Vereinfachung und Steigerung der Effizienz der Entscheidungsmechanismen» schwadronieren und von «Reformen der Volksrechte» schwärmen, die in «eine Konzentration auf das Wesentliche münden».

Das Beispiel, an dem sich die Schweiz nach Überzeugung des Zürcher Professors zu messen habe, sei Singapur. Dieser asiatische Stadtstaat versuche, «die Tugenden einer demokratischen Einbindung mit der Effektivität technokratischer Massnahmen zu vereinen». Dort würden «die Leistungen der Regierung anhand von Leistungskennzahlen gemessen und in regelmässigen Abständen überprüft und beurteilt».

Toll, toll, des Professors Kauderwelsch, das dem autoritär regierten Finanzstaat Singapur «die Tugenden einer demokratischen Einbindung» andichtet! Seit einiger Zeit scheinen wirtschaftsnahe Kreise von der Sehnsucht getrieben, der Schweiz ein ordentliches Quantum autoritäres Singapur zu verabreichen, wenn nicht gar die bewunderte diktatorische Effizienz des kommunistischen China.

Lässt sich die Qualität einer Demokratie durch ihre ökonomische Effizienz definieren?

Die Essenz der Demokratie ist die Freiheit des Einzelnen und der Gesellschaft. Allein daran ist sie zu messen. Demokratie und Rechtsstaat bilden den Rahmen – die Struktur – souveräner Selbstbestimmung und Mitbestimmung des Bürgers.

Der Bürger ist die Gesellschaft. Der Bürger ist der Staat.

Die Effizienz des Wirtschaftens ist Folge der Freiheit des Wirtschaftens. Darin ist die Schweiz beispielhaft: Sie besitzt eine Wirtschaft von Weltgeltung, im breitesten Sinn wertschöpfend, nicht nur geldschöpfend – kreativ durch freie Bürgerinnen und Bürger.

Zum Wesen der Demokratie gehört nicht die Beschleunigung geschichtlicher Prozesse, sondern – ganz im Gegenteil – deren Entschleunigung. Das Ziel einer wirklich freien Gesellschaft ist es, die Menschen mitzunehmen in eine durch sie selbst mit Bedacht gestaltete Zukunft.

Die Renaissance des Streits
5:49
Dank Friedrich Merz:Die Renaissance des Streits
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