In einem Interview mit dem Zürcher «Tages-Anzeiger» sagte der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker: «Die Schweiz und die Europäische Union teilen eigentlich gemeinsame Werte. Die vergessen wir während der schweren Verhandlungen über das Rahmenabkommen allzu leicht und allzu schnell.»
In den Verhandlungen über das Rahmenabkommen geht es der Schweiz um Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und staatliche Beihilfen. In der Tat bedeutende Werte. Wäre die EU bereit, sie im Sinne der Schweiz zu interpretieren, könnte das Rahmenabkommen unterzeichnet werden – und hätte wohl auch eine Chance vor dem Volk.
In Brüssel wertet man die ultimativen Schweizer Forderungen anders: als Zwängerei einer Nation, die von der EU alles will, was ihr nützt – und gleichzeitig möglichst wenig zu geben bereit ist.
So ist das nun mal unter Verhandlungspartnern – beide sind im Recht.
Was meint Jean-Claude Juncker mit den gemeinsamen Werten? Er meint die Werte des europäischen Freiheitsraumes, dessen demokratische und rechtsstaatliche Struktur die Euro- päische Union garantiert. Er meint die offene Gesellschaft, die sich auf dem Kontinent unbehindert entfalten kann. Er meint den Sehnsuchtsort für Bedrängte und Verfolgte aus aller Welt.
Er meint Europa.
Ja, Europa ist heute ein Wert an sich. Der Blick nach Osten belegt es: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und Slowenien leben europäische Freiheit – nach einer langen Geschichte von Krieg und Diktatur. Die osteuropäische Erzählung ist das wahr gewordene Märchen vom Weg ins freie Leben.
Die Europäische Union garantiert dieses freie Leben: die Entwicklung von freier Politik, freier Kultur, freier Wirtschaft. Werte der Wertegemeinschaft EU.
Was hat die Schweiz davon?
Ihre Wirtschaft kann in diesen Ländern investieren, ihre Kultur kann mit diesen Ländern kooperieren, ihre Bürger können diese Länder bereisen. Alles unter sicheren demokratischen Verhältnissen. Der Schweiz hat sich ein neuer europäischer Freiheitsraum erschlossen.
Die gewaltige historische Leistung, die dazu nötig war, hat die Europäische Union erbracht. Auf Drängen Brüssels war die Schweiz bereit, sich zehn Jahre lang mit jeweils rund 100 Millionen Franken an der Entwicklung Osteuropas zu beteiligen: am Ausgleich wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit.
100 Millionen pro Jahr? Das reichste Land der Welt geniesst die Segnungen der Freiheit in Osteuropa zum Schleuderpreis.
Geschenkt.
Was wäre, hätte die EU die osteuropäischen Nationen im Jahr 2004 nicht aufgenommen? In der Ukraine lässt es sich Tag für Tag beobachten: fortwährende Wirren um die Sicherheit nach aussen und um die Entwicklung im Innern.
Diese Betrachtungsweise der europäischen Wirklichkeit hat nichts zu tun mit der aktuellen schweizerischen Wirklichkeit. Die Eidgenossenschaft hat sich verheddert im Gestrüpp von 120 EU-Abkommen, die nun unter das Dach eines Rahmenabkommens gebracht werden sollen.
Der Schweizer Blick ist nicht frei für das, worum es wirklich geht: um ein Zugeständnis, um einen Beitrag zur Freiheit Europas.
Zur Freiheit der Schweiz.