Müssen wir das Schlimmste befürchten? Einen «Flächenbrand», wie dem erschrockenen Zürcher «Tages-Anzeiger» schwant? Werden die randalierenden Jugendlichen von St. Gallen gar in die Geschichte eingehen? Als «verlorene Generation», wie der Blick ihr Schicksal ahnungsvoll auf den Boulevard-Punkt bringt?
Nichts scheint unmöglich, denn – oje, oje – «die Mehrheit der Jungen ist unzufrieden». Letzteres wiederum konstatiert der Politgeograf Michael Hermann, stets zur Stelle, wenn Weltstürme im Wasserglas der Erklärung bedürfen.
Folgen wir also den geografischen Gedankengängen dieses Experten für gesellschaftliche Scheidewege und politische Weggabelungen. «Der Unmut ist gross», belehrt Hermann zunächst all jene, die den erschütterten Seelenzustand der St. Galler Krawallanten noch nicht in seinen tiefsten Tiefen ausgelotet haben. Auf diesen Tatbestand folgt, wie es sich für Geografen gehört, die Analyse des garstigen Geschehens: «Sie befinden sich in einem einmaligen, sehr prägenden Lebensabschnitt, den sie verpassen könnten: Die Sturm-und-Drang-Phase, in der man das Nest verlässt und auf eigenen Beinen zu stehen versucht.»
Für zartbesaitete Zeitgenossen ist der Befund niederschmetternd: Eine ganze Generation von Küken aus dem Nest gefallen, nur leider nicht auf die eigenen Beine, um flatternd und piepsend und stürmend und drängend in die Zukunft zu enteilen. Nein, vom Lockdown niedergehalten muss sie – jedenfalls fürs Erste – auf diesen «sehr prägenden Lebensabschnitt» verzichten.
Einfühlsam zählt die sonst rabiat räsonierende «SonntagsZeitung» auf, woran «die Jugendlichen besonders leiden»: «Sie werden um Erfahrungen gebracht, die prägend sind für das ganze Leben: sei es im Ausgang, an den Hochschulen, im Austauschjahr, bei Sportwettkämpfen, dem Berufseinstieg, der Partnersuche oder dem Reisen.»
Darum fordert der allzeit altersweise Chefredaktor des Blattes: «Es reicht jetzt mit dem Lockdown für die Jugend.»
Wie wärs mit einem Augenblick des Innehaltens? Des Fragens gar?
Könnte es sein, dass dieses Lockdown-Jahr für junge Menschen, die noch fünfzig oder mehr Jahre Lebenserwartung vor sich haben, weniger einschneidend ist als für alte Menschen, denen noch fünf Jahre gegeben sind?
Könnte es sein, dass die Corona-Pandemie eine weit prägendere Jugenderfahrung darstellt als die bislang üblichen Erlebnisse Ausgang-Hochschule-Austauschjahr-Sportwettkampf-Openair-Berufseinstieg-Partnersuche-Auslandsreisen?
Könnte es sein, dass Corona unreife Jugendliche reifer macht als all der vergnügliche Konsumkram, dem zu huldigen der Pubertätsgeneration seit zwölf Monaten schwer gemacht wird?
Könnte es sein, dass das fortwährende Corona-Lockdown-Geschehen mitsamt Versuchen und Versagen und Gelingen von Politik und Verwaltung bedeutende Lebenseinsichten vermittelt – wie vorher nie, wie nachher wohl nie wieder?
Könnte es sein, dass diese so schlimmschlimm gepiesackte Jugend gerade ihren wertvollsten Lebensunterricht erhält?
Und das mediale Mitfühlen mit den wehleidigen Helden von St. Gallen? Es ist, was es ist:
Affentheater.