Flüchtlingspapst Beat Meiner tritt zurück – und liest der Schweiz die Leviten
Wir sind selber schuld, dass so viele Eritreer in der Sozialhilfe landen

Im SonntagsBLICK Interview erklärt Flüchtlingspapst Beat Meiner weshalb er die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) verlässt. Zudem sagt er, dass die Propaganda der Politiker zum Thema Asyl verantwortungslos ist.
Publiziert: 12.07.2015 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 23:21 Uhr
Meiner vor der Berner Asylanlage Hochfeld, wo Flüchtlinge unterirdisch leben. Das sei unwürdig, sagt er.
Foto: Peter Gerber
Interview: Marcel Odermatt, Philippe Pfister; Foto: Peter Gerber

Für viele ist er der Prototyp des «Gutmenschen»: Während seines ganzen Berufslebens engagierte sich Beat Meiner (61) für Asylsuchende. Während der letzten zwölf Jahre war er Generalsekretär der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH). Mit 14 Millionen Franken Budget (2014) ist die SFH die wichtigste Lobbyorganisation im Asylwesen. Anfang Woche gab Meiner überraschend bekannt, den Verband zu verlassen.

SonntagsBLICK: Herr Meiner, Sie gehen bei der SFH Knall auf Fall. Warum?
Beat Meiner:
Es gab leider unterschiedliche Auffassungen bezüglich der strategischen Ausrichtung der Organisation.

Welche Schwachstellen hat die Flüchtlingshilfe?
Die SFH ist zu zwei Dritteln von Spenden abhängig. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Ohne bezahlte operative Tätigkeiten wird die wichtigste Flüchtlingsorganisation der Schweiz ihre Aufgaben langfristig nicht bewältigen können. 

Im Asylwesen scheint ein Notstand zu herrschen. Der Tessiner Regierungsrat Norman Gobbi will die Grenzen schliessen, FDP-Präsident Philipp Müller Flüchtlinge in Camps weit weg von der Schweiz unterbringen. Und die SVP ruft offen zu Widerstand gegen neue Asylzentren auf.
Die Forderung, die Grenzen zu schliessen, gehört seit Jahren zum politischen Programm der Lega. Von Philipp Müller haben wir zum Thema Asyl leider noch nie einen brauchbaren Vorschlag gehört. Und dass Toni Brunner nun sogar zum offenen Widerstand gegen die Staatsordnung aufruft, macht ihn und seine Partei vollends unglaubwürdig.

Wie beurteilen Sie denn die Lage?
Für eine sachliche Beurteilung gibt es zum Glück verlässlichere Indikatoren als die Propaganda verantwortungsloser Politiker. Zum Beispiel die Tatsache, dass sich derzeit weltweit rund 60 Millionen Menschen auf der Flucht befinden und die Schweiz für 2015 mit 30'000 Asylgesuchen rechnet. Während die Not der Flüchtlinge in den zahlreichen Konfliktgebieten also riesig ist, herrscht in der Schweiz sicher kein Notstand.

Die Schweiz könnte mehr Flüchtlinge aufnehmen?
Wäre der politische Wille vorhanden – ja, wesentlich mehr. Das haben wir in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, etwa im Balkankonflikt, als während dreier Jahre jeweils weit mehr als 40'000 Personen bei uns anklopften.

Können wir denn endlos Flüchtlinge aufnehmen?
Das ist das Killer-Argument, das immer kommt, wenn man sich für die Aufnahme von Flüchtlingen einsetzt. Natürlich kann die Schweiz die gigantischen Herausforderungen einer Welt, die zusehends aus den Fugen gerät, nicht alleine bewältigen. Aber wir müssen alles tun, was den Möglichkeiten eines hoch industrialisierten, reichen und weltweit vernetzten Landes entspricht. Wenn wir sehen, dass ein kleines, armes Land wie der Libanon zwei Millionen Flüchtlinge aufnimmt, also jeder Dritte Bewohner ein Flüchtling ist – dann ist doch völlig klar, dass wir mehr leisten müssen, als wir es heute tun. Zudem ist unsere Wirtschaft dringend auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Und dieser Bedarf wird sich in den nächsten Jahren noch akzentuieren, in denen die starken Geburtenjahrgänge in Pension gehen und zu wenige Junge nachkommen.

Das Dublin-Abkommen sollte für einen Ausgleich in Europa sorgen. Die Rückführung zwischen den EU-Staaten funktioniert aber schlecht: 2014 wurde nur jeder vierte Antrag auf Rückführung ausgeführt – wegen mangelnder Kooperation der Staaten oder weil Asylsuchende untertauchen. Ist das System gescheitert?
Das Dublin-System hat sicher grosses Verbesserungspotenzial. Das grösste Problem in der europäischen Asylpolitik sehe ich aber in den enormen Unterschieden, was die Asylverfahren, die Versorgung und Integration der Flüchtlinge anbelangt. Solange Flüchtlinge mit dem gleichen Schicksal an einem Ort Asyl erhalten und am anderen abgewiesen werden, und solange Flüchtlinge an einem Ort menschlich aufgenommen und am anderen auf die Strasse gestellt und sich selber überlassen werden, solange kann es keine solidarische Verteilung der Flüchtlinge in Europa geben.

Dann ist Dublin also doch ein Flop!
Trotz seiner Mängel muss man feststellen, dass es zurzeit keine ernsthafte Alternative zum Dublin-Abkommen gibt. Die Schweiz bekäme die Folgen einer Kündigung empfindlich zu spüren: Alle anderswo abgewiesenen Flüchtlinge würden bei uns ein zweites Asylgesuch stellen.

Österreich nimmt keine neuen Asylgesuche entgegen, Frankreich schliesst die Grenzen, Dänemark verschärft die Gesetze. Sind wir zu attraktiv für Asylbewerber?
Am besten probieren Sie es selber mal aus, wie attraktiv es ist, zusammen mit elf Schicksalsgenossen monate- oder gar jahrelang ­einen engen Raum in einer unterirdischen Zivilschutzanlage zu teilen. Sie könnten dabei auch erleben, wie es sich anfühlt, mit acht bis zwölf Franken pro Tag Ihr Leben zu fristen. Und Sie könnten am eigenen Leib erfahren, was medizinische Versorgung im Asylbereich bedeutet, etwa wenn Ihnen bei Zahnproblemen als einzige Behandlungsmöglichkeit das Ziehen der schmerzenden Zähne offenstünde.

Rund 90 Prozent der Eritreer beziehen Sozialhilfe. Ist das keine gesellschaftliche Zeitbombe?
Die tiefe Erwerbsquote von Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen ist ein Skandal erster Güte, den wir uns aber selber anlasten müssen. Anstatt sie möglichst rasch zu integrieren, lassen wir diese Menschen, von denen wir genau wissen, dass sie sehr lange bei uns bleiben werden, jahrelang in prekären Bedingungen hängen. Sie leben am Rande unserer Gesellschaft, fühlen sich ausgeschlossen, gedemütigt und wertlos.

Was sollten wir denn tun?
Was wir dringend brauchen, ist ein Integrationspogramm, das jedem Menschen, der bei uns Schutz gefunden hat, ein selbständiges Leben ermöglicht. Diese Investition lohnt sich auch, wenn Flüchtlinge dereinst heimkehren können. Mit einer soliden Ausbildung und Berufserfahrung können sie einen wertvollen Beitrag für die Entwicklung ihres Landes leisten.

Europa baut sich zur Festung aus, Hunderte ertrinken im Mittelmeer. Sind wir moralisch nicht diskreditiert?
Die moralische Diskreditierung fängt schon viel früher an, nämlich dort, wo wir es zulassen, dass Verhältnisse entstehen, die Menschen in die Flucht treiben. Das kolossale Versagen der internationalen Gemeinschaft bezüglich des Irak-Kriegs der Amerikaner ist ein trauriges Beispiel dafür. Hätte es diesen völkerrechtswidrigen Krieg nicht gegeben, könnten heute Millionen von Flüchtlingen immer noch in ihrer Heimat leben. Dasselbe gilt für zahllose Menschen aus hoch korrupten und gewalttätigen Diktaturen in Asien und Afrika, mit denen die Schweiz profitable Wirtschafts- und Handelsbeziehungen unterhält.

Sie und die Flüchtlingshilfe haben dazu aufgerufen, privat Flüchtlinge aufzunehmen. Sind Sie selber mit gutem Beispiel vorangegangen?
Die Unterbringung von Flüchtlingen bei Privaten ist im Kanton Bern erst seit Anfang dieses Jahres gestattet. Wir sind nun daran abzuklären, ob wir gemeinsam mit unseren Nachbarn ein bis zwei Personen aufnehmen und bei der Integration unterstützen könnten. Im Haus, in dem wir leben, gibt es eine kleine Wohnung, die bisher für Gäste reserviert war, sich aber ideal auch für die Aufnahme von Flüchtlingen eignen würde.

Tragen Sie die Kosten?
Die Gelder des Bundes fürs Wohnen und die Versorgung der Flüchtlinge stehen auch bei der privaten Unterbringung zur Verfügung. Mit diesem Projekt der Flüchtlingshilfe soll nicht der Staat aus seiner Verantwortung entlassen, sondern die Flüchtlinge bei der Integration unterstützt werden. Es geht darum, die Flüchtlinge menschlich aufzunehmen. Das geht am besten, wenn sie schnell mit der einheimischen Bevölkerung in Kontakt kommen und ein soziales Netz aufbauen können.

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