Die Strassen im Zentrum von Antananarivo, der Hauptstadt Madagaskars, sind noch leer an diesem Morgen. Es ist der 17. Juli 1996, kurz vor sieben Uhr. Ein kühler Wind weht vom Meer herauf.
In einer Seitengasse steht ein Toyota-Geländewagen mit verriegelten Türen, die Warnblinker sind eingeschaltet. Auf dem Rücksitz liegt ein Mann. Er ist gefesselt, aus seinen Ohren fliesst Blut, die Zunge ist blau verfärbt. Unbekannte haben ihn mit einem Strang erwürgt.
Der Ermordete ist Walter Arnold (†52), ein hochrangiger Schweizer Entwicklungshelfer. Der Urner Bauingenieur war hier für ein Strassenbauprojekt der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) verantwortlich.
Bis heute sind die Hintergründe der Gewalttat unbekannt. «Die Wahrheit liegt in Madagaskar», schrieben Schweizer Ermittler der Bundespolizei 2002 in ihrem ergebnislosen Abschlussbericht. Doch Angehörige zweifeln seit Beginn an dieser These. Sie sind überzeugt: Die Wahrheit liegt auch in der Schweiz.
Arnold hatte belastendes Material
Tatsächlich deuten Indizien darauf hin, dass Arnold Opfer eines Komplotts wurde, weil er gravierenden Missständen auf der Spur war. Mitwisser oder Täter könnten aus der Schweiz stammen. Kurz vor seinem Tod deutete Arnold gegenüber Bekannten an, dass er «auf eine grosse Sache» gestossen sei, einen von ihm gut dokumentierten «Skandal», den er auffliegen lassen wolle. Laut seinen Notizen hatte der Entwicklungshelfer die Zweckentfremdung von Ressourcen festgestellt, die eigentlich für das Strassenbauprojekt gedacht gewesen waren.
Recherchen zeigen jetzt erstmals, worum es sich bei der «grossen Sache» handeln könnte. Mehrere direkt involvierte Zeugen aus der Schweiz haben ausgesagt, dass der damalige Vizedirektor der Deza und Verantwortliche für das Hilfsprogramm auf Madagaskar ein Bordell betrieben habe. Mehr noch: Das Stundenhotel soll auch mit Schweizer Entwicklungsgeldern finanziert worden sein.
«Besondere Dienste für grauhaarige Schweizer Herren»
Dem SonntagsBlick liegt eine Eingabe an die Bundesanwaltschaft vom 24. Mai 2017 vor. Darin berichtet der mit dem Fall betraute Anwalt vom «Bordell-Hotel» im Ort Morondava, knapp 400 Kilometer entfernt von der Inselhauptstadt. Laut Zeugen hatte der inzwischen verstorbene Deza-Vize das Etablissement zusammen mit einer Ex-Prostituierten betrieben. Im Angebot: «Besondere Dienste für grauhaarige Schweizer Herren».
Jetzt rollt die Bundesanwaltschaft den Fall erneut auf. «Aufgrund von neuen von der Familie des Verstorbenen eingebrachten Elementen haben wir das Verfahren wieder aufgenommen», sagt Sprecherin Ladina Gapp.
Wiederholt sorgten Ungereimtheiten und Widersprüche in den Ermittlungen für Schlagzeilen. Mehrere mögliche Zeugen wurden in Madagaskar umgebracht, darunter Arnolds privater Nachtwächter. Er hätte über die letzten Lebensstunden des Urners Auskunft geben können. Doch der Mann starb nach einem Giftanschlag – zwei Wochen vor der geplanten Einvernahme durch die Schweizer Polizei.
Man hofft auf weitere Zeugen
Auch bei der Spurensicherung wurden – bewusst oder unbewusst – gravierende Fehler gemacht. Zuletzt verschwanden aus den Ermittlungsdossiers wichtige Akten. Auch der Laptop und persönliche Dokumente von Arnold waren nicht mehr auffindbar. Hatten Ermittler etwa ein Interesse daran, die wahren Motive für den Mord zu vertuschen?
Jan Stiefel ist davon überzeugt. Der Freund und ehemalige Deza-Kollege des getöteten Entwicklungshelfers versucht zusammen mit dessen Angehörigen und einem Anwalt seit mehr als 20 Jahren Licht in den mysteriösen Mordfall zu bringen: «Wir vermuten, dass die Schweizer Seite über Jahre hinweg versucht hat, die Hintergründe des Mordes zu verschleiern.» Den Grund dafür glaubt Stiefel jetzt endlich mit der Bordell-Sache gefunden zu haben.
Stiefel und seine Mitstreiter drängen nach Aufklärung des hochpolitischen Falls. Sie hoffen, dass sich jetzt weitere Zeugen melden.
Die Bundesanwaltschaft hat inzwischen ein neues Rechtshilfeersuchen nach Madagaskar geschickt – bisher steht eine Antwort des Inselstaates aus.