Fernunterricht wegen Corona
«Muss ich die Klasse repetieren?»

Der Unterricht zu Hause ist für Kinder aus schwierigen Verhältnissen ein Problem. Sie drohen abgehängt zu werden – der Lehrerverband fordert zusätzliche Mittel.
Publiziert: 25.04.2020 um 10:50 Uhr
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Leere Klassenzimmer: Noch bis zum 11. Mai bleiben die Schulen geschlossen.
Foto: Thomas Meier
Raphael Brunner und Birthe Homann, «Beobachter»

Jeden Morgen steht Sahin Sulemani* um fünf Uhr auf, kocht, putzt und lernt Arabisch im Fernstudium. Dann weckt sie ihre drei Mädchen und ihren Jungen. Nach dem Frühstück beginnen sie mit der Schule daheim, dem Homeschooling.

«Ich versuche, den Kindern mit den Aufgaben zu helfen», sagt Sulemani. Aber sie müsse jedes Wort erst im Wörterbuch nachschlagen, um überhaupt die Aufgaben zu verstehen. Es sei viel zu viel. Ihr Mann arbeitet in einer Metallbaufirma und ist den ganzen Tag über weg.

«Es ist sehr schwierig und anstrengend für mich. Alles hängt an mir», erzählt die Pakistanerin. Ihr Deutsch ist schlecht, obwohl sie seit zehn Jahren in der Schweiz lebt. Die Kinder schaffen an keinem Tag sämtliche Aufgaben, die sie machen müssen. Mit dieser Realität wird es noch mindestens bis zum 11. Mai weitergehen.

Schere geht weiter auf

Als Folge der erzwungenen Schulschliessung geht die Schere zwischen privilegierten und benachteiligten Kindern weiter auf. Die einen lernen – unterstützt von den Eltern – zu Hause mehr als in der Schule. Andere verlieren den Anschluss. Fast 20 Prozent der Schülerinnen und Schüler sind gefährdet, ergaben erste Erhebungen.

Betroffen sind vor allem Kinder aus benachteiligten Familien, deren Eltern bei den Aufgaben kaum helfen können und die zu Hause nur wenig Platz fürs Lernen haben. Das macht es doppelt schwierig, sich zu konzentrieren. Und es schlägt auf die Motivation. Viele von ihnen arbeiten höchstens neun Stunden pro Woche für die Schule. Das zeigt das «Schul-Barometer» der Pädagogischen Hochschule Zug, gestützt auf 2500 Rückmeldungen von Eltern und Kindern.

«Das Elternhaus hat in der momentanen Situation noch mehr Einfluss auf den Schulerfolg der Kinder als sonst», bilanziert Dagmar Rösler, die den Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) präsidiert.

Die Familie Sulemani wohnt in einer Sozialsiedlung am Rand von Zürich. Bis vor drei Jahren lebten sie noch zu sechst in einer Zweizimmerwohnung. «Hier in der neuen Wohnung ist es wie in einer Villa für uns», sagt die Mutter. Die vier Kinder teilen sich zwei Zimmer. Die 40-Jährige sitzt auf dem Sofa im Wohn- und Esszimmer, serviert süssen Schwarztee. Sie zeigt auf den Spielplatz im Innenhof. Er ist zum Zufluchtsort für die Kinder geworden.

Normalerweise besuchen Sulemanis Kinder nach der Schule die Aufgabenhilfe und den Hort – das fällt jetzt weg. Im Unterricht fördert sie eine DaZ-Lehrerin (Deutsch als Zweitsprache), auch das fällt seit Wochen aus. «Alles fehlt ihnen sehr», sagt die Mutter. Sie versuche, den TV-Konsum auf anderthalb Stunden pro Tag zu beschränken. «Aber was sollen die Kinder denn den ganzen Tag machen?»

«Mein Sohn verweigert sich»

«Die Lehrpersonen müssen versuchen, mit gefährdeten Kindern täglich Kontakt zu haben», sagt LCH-Präsidentin Dagmar Rösler. Bedenken, dass andere Schüler vernachlässigt werden könnten, seien fehl am Platz. «Es ist auch im Präsenzunterricht so, dass manche mehr Betreuung brauchen als andere. Im Fernunterricht gilt das ganz besonders.»

Wichtig sei, den Kindern eine Struktur zu geben: klare Vorgaben, verbindliche Termine. Dass zum Beispiel eine bestimmte Aufgabe bis zum nächsten Tag um neun Uhr gelöst sein muss. «Einige Schüler lernen zu Hause weniger als in der Schule. Deshalb ist es während des Fernunterrichts wichtig, dass gerade sie nicht ganz abschalten.»

Doch dranbleiben aus der Ferne ist nicht einfach. «Meine Kinder sind es nicht gewohnt, daheim viel zu lernen und so viel Zeit am Computer zu verbringen. Mein Sohn verweigert sich, es ist sehr schwierig», sagt Sahin Sulemani. Bildung ist ihr aber wichtig. Sie möchte, dass ihre Kinder gut in der Schule sind, um später eine qualifizierte Ausbildung machen zu können.

Ein anderes Problem ist die Infrastruktur. Die Familie besitzt nur einen alten PC. Deshalb hat die Schule der ältesten Tochter, Ameeta*, 11, ein Tablet zur Verfügung gestellt. «Mit den Klassenvideo-Konferenzen klappte es aber zweimal nicht», erzählt die Viertklässlerin. Ihre Eltern haben keine Computerkenntnisse, bei technischen Problemen ist sie ganz auf sich allein gestellt.

Beobachter
Artikel aus dem «Beobachter»

Dieser Artikel wurde aus dem Magazin «Beobachter» übernommen. Weitere spannende Artikel finden Sie unter www.beobachter.ch

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«Auch viele Lehrpersonen sind nicht auf den Unterricht über digitale Kanäle vorbereitet», sagt Philippe Wampfler, Spezialist für digitalen Unterricht, Gymilehrer und Vater von drei Primarschulkindern. Für Ungeübte empfiehlt er Apps mit einer Videofunktion wie Whatsapp. Bereits Erstklässler könnten damit umgehen.

«Besonders für die Kleineren ist es wichtig, dass sie die Lehrerin nicht nur hören, sondern auch sehen. Sie muss Präsenz zeigen, damit die Beziehung bestehen bleibt.» Zudem können Lehrpersonen mit der App ohne grossen Aufwand filmen, wie sie etwas an der Wandtafel erklären.

Beim Homeschooling müsse man aber auch schauen, dass die Beziehungen unter den Schülern nicht zu kurz kommen. Denn die Kontakte im Schulhaus, durch die sie sich gegenseitig beeinflussen und unbewusst unterstützen, sind weggefallen.

Dagegen gebe es aber ebenfalls Rezepte, etwa gemeinsame Hausaufgaben mit gezielt ausgewählten Partnern. So können die Schüler beim Lesen eines Texts unterschiedliche Sprechrollen übernehmen, sich übers Handy gegenseitig vorlesen und das Ganze aufnehmen. «Alles, was sie gemeinsam erarbeiten und was den Austausch fördert, ist gut», sagt Wampfler.

Die grosse Schwester hilft


Ameeta ist eine fleissige Schülerin, doch sie hat Angst, jetzt viel zu verpassen. «Muss ich repetieren?», fragt sie mehrmals. Die Elfjährige hilft den jüngeren Geschwistern bei den Aufgaben, so gut sie kann, aber die Lehrpersonen kann sie unmöglich ersetzen. «Ich verstehe manchmal ja selbst nicht genau, was gemeint ist», sagt sie. In der Schule könne sie immer nachfragen, und die Lehrerin helfe, bis sie drauskomme. Aber jetzt? Sie senkt den Blick.

Die Lehrerin ihres jüngeren Bruders gab ihm einmal Nachhilfestunde, weil er einen Grossteil der «Ufzgi» nicht gemacht hatte. «Ich habe sie angerufen und um Hilfe gebeten», erzählt Sahin Sulemani. «Wenn die Kinder nur schon ein-, zweimal pro Woche für eine Stunde in die Schule könnten, könnten sie die Lehrerin alles fragen, was sie nicht verstanden haben. Es würde viel besser laufen.» Jeden Tag neue Pläne, was die Kinder machen müssten, das überfordere sie alle. Sie hofft, dass die Kleinen den Stoff nachholen können, wenn die Schule nun bald wieder geöffnet wird.

«Das wird kosten»

Etwa ein Drittel werde mit Lernfortschritten aus dem Fernunterricht zurückkommen, legt das Zuger «Schul-Barometer» nahe. Beim Viertel am anderen Ende der Skala dagegen werde auch zuvor Gelerntes eher wieder verloren gegangen sein.

«Um diese Lücken zu füllen, wird es Zeit brauchen, aber auch zusätzliche Heilpädagoginnen und Klassenassistenten», sagt LCH-Präsidentin Rösler. Für benachteiligte Kinder werde es noch wichtiger sein, dass sie individuellen Unterricht erhalten, teilweise Eins-zu-eins-Betreuung. Das werde kosten. «Wie bei der Wirtschaft wird die Politik auch bei der Schule nicht darum herumkommen, zusätzliche Gelder zu sprechen.»

Ameeta sagt nach zwei Wochen Ferien mit viel Zeit und wenig Abwechslung: «Ich will einfach so bald als möglich wieder in die Schule.» Kurz vor dem Lockdown hatte sie mit Nachhilfeunterricht in Deutsch und Mathematik begonnen. «25 Franken für 45 Minuten – viel Geld für uns. Aber es hat ihr so gutgetan», sagt ihre Mutter. Ameeta vermisst auch diesen Unterricht schmerzlich. «Muss ich repetieren?», fragt sie noch mal.


*Name geändert

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