Der frühere FDP-Chef Philipp Müller (65) war im Parlament an vorderster Front verantwortlich für die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative. Diese sollte «pfefferscharf» sein. Jetzt zeigen Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS), dass nur 54 Prozent der verurteilten Ausländer ausgeschafft werden. Mittlerweile ist allerdings ein Streit um diese Zahlen entstanden: Das BFS will auf Druck der Justiz nachbessern. Für Ständerat Müller verursacht das Amt ein Chaos. Es ändere sich nichts daran, dass die Justiz das Gesetz zu lasch anwende.
BLICK: Herr Müller, vor der Abstimmung über die Durchsetzungs-Initiative der SVP haben Sie ein «pfefferscharfes» Ausschaffungsgesetz versprochen. Jetzt stockt Ihre Pfeffermühle!
Philipp Müller: Im Gegenteil, die wird jetzt nachgefüllt! Das Problem ist nicht das Gesetz, sondern sein Vollzug durch die Justiz. Im Gesetz steht klar, dass die Härtefallklausel nur ausnahmsweise und bei schweren persönlichen Härtefällen angewendet werden darf. Die Härtefallklausel muss die absolute Ausnahme und nicht die Regel sein.
Aber die Justiz hat nun einmal Interpretationsspielraum.
Da gibt’s nichts zu interpretieren, die Formulierung ist glasklar. Das wurde auch im Parlament sehr deutlich gemacht. Nur bei seltenen und absoluten Ausnahmen darf ein Härtefall beansprucht werden. Doch die Konferenz der Staatsanwälte hat unmittelbar nach Inkrafttreten des Gesetzes Empfehlungen beschlossen, die dem Gesetz krass zuwiderlaufen. Zudem wurden letztes Jahr 440 Fälle per Strafbefehl abgeschlossen. Dieses Vorgehen verunmöglicht einen Landesverweis. Solche können nämlich nur die Gerichte anordnen. So nützt die schärfste Härtefallklausel nichts!
Dann sind die Staatsanwälte schuld?
Ich respektiere die Gewaltenteilung – und das erwarte ich umgekehrt auch von der Justiz. Mit ihren Empfehlungen haben sich die Staatsanwälte aber gesetzgeberisch eingemischt. Und das im Widerspruch zum Parlamentsentscheid. Das ist eine Unverfrorenheit sondergleichen!
Hebeln die Staatsanwälte in Ihren Augen das Gesetz aus?
Das kann man deutsch und deutlich so sagen. Im Gesetz steht schwarz auf weiss, dass ein Ausländer, der wegen einer strafbaren Handlung verurteilt wurde, «unabhängig von der Höhe der Strafe» für 5 bis 15 Jahre aus der Schweiz verwiesen wird. Was unter strafbaren Handlungen zu verstehen ist, die zu einem Landesverweis führen, ist im Gesetz zudem haargenau aufgeführt. Und was die Staatsanwälte-Konferenz am 24. November 2016 empfohlen hat, ist eigener Katalog, der nicht zu einem Landesverweis führen soll. Darunter auch, dass ein Landesverweis nur bei über sechs Monaten Freiheitsentzug überhaupt in Frage kommt. Davon steht im Gesetz rein gar nichts.
Sie sind verärgert.
Natürlich! Die Judikative nimmt den Gesetzgeber und letztlich das Volk nicht ernst! Es kann doch nicht sein, dass von den Ausländern mit einer Jahresaufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung, die eine Straftat begehen, die zu einem Landesverweis führen muss, lediglich zehn Prozent wirklich gehen müssen. Damit wird die Ausnahme zur Regel – das geht so nicht! Die Härtefallklausel wird ganz klar missbraucht und missachtet.
Wie erklären Sie sich das Vorgehen der Staatsanwälte?
Für mich gibt es nur eine Erklärung: Ein Strafbefehlsverfahren geht schneller und entlastet die Gerichte. Aber die Aufgabe der Justiz ist es, die vom Parlament und vom Volk erlassenen Gesetze strikte durchzusetzen und Verstösse gemäss Gesetz zu sanktionieren.
Darum klopfen Sie der Justiz nun auf die Finger.
Das tun wir auf unsere Weise und setzen halt die Leitplanken für die Justiz nochmals enger.
Sie haben nun eine Motion eingereicht, die will, dass Fälle, in die Ausländer mit Aufenthaltsbewilligungen verwickelt sind, zwingend vor Gericht landen.
Ja, denn wie gesagt: Erledigungen im Strafbefehlsverfahren schliessen eine Landesverweisung zum Vornherein aus, weil ja eben nur die Gerichte einen solchen aussprechen dürfen. Zudem wissen wir nicht einmal, welche dieser Fälle Ausländer mit Aufenthaltsbewilligung betrafen und wie viele Kriminaltouristen. Um aber den Effekt des Gesetzes exakt beurteilen zu können, brauchen wir genaue Statistiken.
Stört es Sie auch, dass es bei Kriminaltouristen zu Strafbefehlen kommt?
Nein, im Gegenteil. Ausländische Straftäter haben ja keine Aufenthaltsbewilligung, die man entziehen kann. Die soll man wenn immer möglich im vereinfachten Strafbefehlsverfahren aburteilen. Die müssen ja nach Verbüssung der Strafe ohnehin gehen. Deshalb können wir uns bei Kriminaltouristen ein aufwendiges Verfahren sparen, wenn es sich nicht um schwere Taten gegen Leib und Leben handelt, die vor ein Gericht gezogen werden.
Reicht Ihre Motion? Oder müsste auch Bundesrätin Sommaruga tätig werden?
Man muss Frau Sommaruga zugutehalten, dass sie schon im März im Ständerat darauf hingewiesen hat, dass sie mit der Situation nicht zufrieden ist. Sie hat damals auch durchblicken lassen, dass der Bundesrat an eine Gesetzesergänzung denken könnte, sollte sich zeigen, dass der Vollzug nicht korrekt geschieht. Mit meiner Motion habe ich hier nachgeholfen, weil es beim Bundesrat wohl zu lange dauert. So schlecht die vorliegende Statistik ist, sie verstärkt den Eindruck, dass eine Gesetzesanpassung notwendig ist.
Sind Sie sicher, dass die Richter damit mehr Landesverweise aussprechen würden?
Die Zahl ist nicht das eigentliche Kriterium. Entscheidend ist, dass das vom Volk und vom Gesetzgeber beschlossene Gesetz konsequent vollzogen wird. Die heutige Härtefallklausel ist äusserst scharf formuliert. Man kann sie nicht mehr schärfen, nur noch abschaffen. Wenn meine Motion durchkommt, dann ist das die letzte Chance für die Justiz. Sollten sich die Zustände nicht bessern, wird sich das Parlament schon bald mit der gänzlichen Abschaffung der Härtefallklausel befassen müssen.
Wären auch Sie in diesem Fall für die Streichung?
Ja, wenn sich auch die Richter nicht im Sinne des Strafgesetzbuchs und dem Willen des Gesetzgebers verhalten, bin ich für die Streichung der Härtefallklausel.
Sie sind wohl sehr enttäuscht von der Justiz.
Schon, aber nicht nur. Die Unverfrorenheit der Staatsanwälte ist auch eine neue Erfahrung. Ich hätte mir das nie vorstellen können, dass die Staatsanwälte-Konferenz nach eigenem Gusto einen derartigen Ausnahmekatalog macht, der das Gesetz unterläuft. Das ist anmassend.
Die SVP zeigt hämisch auf Sie.
Damit kann ich leben, aber ich handle ja auch sehr rasch. Die Motion wurde innert einer halben Stunde von 27 Ständeräten unterzeichnet. Damit ist in unserem Rat die Mehrheit bereits gegeben. Meine Motion hat übrigens die vollständige Unterstützung der SVP-Ständeräte erhalten – so falsch scheinen die SVPler mein Vorgehen also nicht zu finden.