BLICK: Das Nein zur Unternehmenssteuerreform III wird als Ausdruck einer tiefen Vertrauenskrise gewertet. Stimmen Sie zu?
Petra Gössi: Das Nein war ein Resultat von Unsicherheiten und Unzufriedenheiten auf vielen Ebenen. Aber es zeigt schon auch, dass das Verhältnis von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht das beste ist. Wir alle müssen wieder zum Miteinander finden, das die Schweiz so erfolgreich gemacht hat.
Schöne Worte. Aber was heisst das konkret?
Ich fordere von der Gesellschaft, dass sie sich mehr engagiert. Die Besinnung auf sich selbst – ich schaue erst einmal, dass es mir gut geht – ist schädlich. Alle sind gefordert, wieder mehr Verantwortung zu übernehmen. Das ist der Kern unseres Milizsystems. Ohne dieses funktioniert unser Land nicht.
Also alle in die Politik?
Nein. Man kann sich auch im Volleyballklub, in der Fasnachtsgesellschaft oder im Trachtenverein engagieren. Wichtig ist die Stärkung des Gemeinsinns.
Wo muss die Politik nachbessern?
Sie muss vor allem gute Rahmenbedingungen schaffen. Nehmen wir die Digitalisierung: Die kommt sowieso. Aufgabe der Politik ist es, die Innovationskraft nicht abzuwürgen, sondern Gesetze so anzupassen, dass sich die Unternehmen in diesem Sektor entfalten können.
Und was muss die Wirtschaft tun?
Sie muss sich wieder in den Dienst der Gesellschaft stellen.
Wenn die Unternehmen auch noch die Verantwortung für den Staatsapparat übernehmen müssen, dann könne man die Politik auch gleich abschaffen, sagt Ex-UBS- und CS-Chef Oswald Grübel. Was antworten Sie?
Lieber Herr Grübel, dann sind wir schneller im Sozialismus, als Sie papp sagen können. Grübel vergisst eines: Wenn Unternehmen ihre soziale Verantwortung nicht mehr wahrnehmen, wird die Politik sie dazu zwingen. Und das bedeutet neue Regulierungen, die wir eigentlich nicht wollen. Doch liberale, wirtschaftsfreundliche Politik ist nur möglich, wenn Unternehmen über den eigenen Tellerrand hinausschauen und soziales Engagement zeigen.
Wie zum Beispiel?
Mein Arbeitgeber gibt jeder Frau, die Mutter wird, sechs Monate voll bezahlten Mutterschaftsurlaub mit garantierter Rückkehr an den Arbeitsplatz, auch in Teilzeit. Das ist grossartig! Es braucht auch den Tatbeweis, dass zuerst Inländer angestellt werden und ältere Mitarbeiter nicht entlassen werden. Je mehr Verantwortung die Unternehmen zeigen, desto weniger wird der Ruf nach Regulierung laut. Und wir brauchen vor allem Wirtschaftsführer, die wieder Position beziehen.
Wo sehen Sie die Rolle der Wirtschaftsverbände, die ja das Bild der Wirtschaft prägen?
Einzelne Verbände haben in der Bevölkerung kein gutes Ansehen mehr. Auch, weil man dort keine starke Führung sieht. Was noch schlimmer ist: Den Verbänden fehlt zum Teil das politische Gespür. Und das ist fatal.
Warum?
Nehmen Sie die Abstimmung über die Unternehmenssteuerreform III: Wer musste nach der Niederlage den Kopf hinhalten? Die Parteien. In der Kampagne aber hatten wir kaum Gewicht. Wir sahen bereits früh, dass die Abstimmung verloren gehen kann. Entsprechend haben wir ein Konzept erarbeitet, mit einer emotionalen Kampagne. Es wurde aber einfach ignoriert. Die Verantwortung für das Nein muss nun aber die Politik tragen.
Stimmt die Machtverteilung nicht mehr?
Economiesuisse und all die anderen sind zuvorderst dabei, wenn es darum geht, ihre Interessen durchzusetzen. Sie haben reichlich Geld, aber viel vom Gespür verloren, von wo der politische Wind weht. Dabei wäre es ihre Rolle, als Bindeglied zwischen der Politik und Wirtschaft zu funktionieren und auch gegenüber der Wirtschaft Missstände aufzuzeigen. Warum verdient zum Beispiel ein Manager Abermillionen, wenn das Unternehmen gleichzeitig Verluste einfährt? In der Politik würde das den Kopf kosten. In der Wirtschaft bekommt man einen Bonus. Das versteht doch kein Mensch!
Müssen die Parteien wieder die Führung übernehmen?
Ich sehe keinen anderen Weg. Für mich ist klar: Eine Kampagne wie bei der Unternehmenssteuerreform III wird es mit der FDP nicht mehr geben. Wir wollen uns am Beispiel der Durchsetzungs-Initiative orientieren. Da haben viele verschiedene Akteure gezielt in ihren Milieus mobilisiert. Das hat zum Erfolg geführt.