Die 20-jährige Andrea* sagt: «Mit 13 Jahren begann ich, regelmässig Alkohol zu trinken.» Zunächst war es Bier, dann Wodka, bald nahm sie auch Ecstasy, zuletzt Amphetamine, täglich: «Wegen des Alkohols bin ich auf Drogen gekommen.» Die Lehre hat sie verloren, Arbeit fand sie nicht. Der Mutter zuliebe stieg sie letzten August aus der Abhängigkeit aus.
Die Politik wollte solchen Drogenkarrieren von Jugendlichen entgegentreten, als der Bund 2012 beschloss, das Alkoholgesetz aus dem Jahr 1932 zu revidieren. Sein Ziel: die Prävention ausbauen.
Herausgekommen ist exakt das Gegenteil. Geht es nach dem Nationalrat, sind künftig wieder Happy Hours und Fünfliber-Partys erlaubt. Schnapsbrenner profitieren von tieferen Steuern. Auch eine gesetzliche Grundlage für Testkäufe von Alkohol wurde nicht verabschiedet.
Präventionsfachleute sind alarmiert. Gestern suchten sie bei einer Tagung in Solothurn nach Auswegen aus der verfahrenen Situation. Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf (BDP, 59) bekniete das Parlament Anfang Juni: «Ich möchte Sie schon bitten, dem nächtlichen Verkaufsverbot, das das einzige Überbleibsel der Prävention ist, zuzustimmen.» Der Nationalrat lehnte ab.
Dabei sind sich Fachleute einig: Prävention wäre gerade bei Jugendlichen äusserst wichtig: «Das Hirn entwickelt sich, bis sie über 20 Jahre alt sind», sagt Thilo Beck, Chefarzt Psychiatrie bei den Arud-Zentren für Suchtmedizin. Jeder übermässige Genuss psychoaktiver Substanzen schädige das Gehirn.
Das neue Gesetz nennt Beck im Hinblick auf einen vernünftigen Umgang mit Suchtmitteln «eine Fehlgeburt – es ist schlechter als das alte Gesetz».
Auch Philipp Frei (31), Mediensprecher des Blauen Kreuzes, ist alarmiert: «Die Steuersenkung zusammen mit der Rückkehr der Happy Hours ist eine unselige Kombination», sagt er.
Dabei denkt er auch an sich: Frei stieg mit 13 Jahren in die rechtsextreme Szene ein. Dort wird viel Alkohol getrunken. «Damals hat es im Geschäft und in den Restaurants keinen interessiert, wie alt wir waren.»
Frei, der mit 18 Jahren wieder aus der rechten Szene ausstieg, erinnert sich: «Ich bin im Winter mit einer Alkoholvergiftung bewusstlos zusammengebrochen.» Er wäre beinahe gestorben. Seither trinkt er nur noch zum Genuss.
Ganz verhindern, dass Jugendliche exzessiv trinken, könne man zwar nicht, sagt Frei. Aber: «Jugendliche sind extrem preissensibel.» Tiefere Steuern auf Schnaps seien daher fatal.
Auch das Bundesamt für Gesundheit ist besorgt über den Entscheid des Nationalrats: «Mit der Preissenkung steigt das Risiko für gesundheitliche und gesellschaftliche Schäden», sagt Mediensprecherin Mona Neidhart.
Jetzt hoffen die Präventionsbefürworter auf den Ständerat. Dieser könnte das verkorkste Gesetz beerdigen – und die Rettung des Präventionsgedankens erzwingen.