Seit Anfang Jahr sitzt die Schweiz im Uno-Sicherheitsrat – und damit Seite an Seite mit den Grossmächten USA, China und Russland. Im Vorfeld der Kandidatur gab es Bedenken, das Land setze damit seine Neutralität aufs Spiel. Was sagt der Uno-Experte dazu? Ein Gespräch mit Thomas Biersteker (72), Professor für internationale Beziehungen am IHEID in Genf.
Herr Biersteker, riskiert die Schweiz mit dem Einsitz in den Uno-Sicherheitsrat ihre Neutralität?
Thomas Biersteker: Nein. Die Schweiz dürfte sich bei ihren Entscheiden an ihren bekannten Positionen orientieren: Verteidigung der Menschenrechte, Respekt des internationalen Rechts, Vermittlung in Konfliktsituationen. Das stellt keine Verletzung der Neutralität dar. Was aber stimmt: Der Uno-Sicherheitsrat ist heute politisierter als vor fünf oder zehn Jahren. Die Grossmächte stehen sich feindlicher gegenüber. Das macht es schwieriger, Lösungen zu finden.
Wie kommts?
Angefangen hat die zunehmende Politisierung mit dem Streit über die Intervention in Libyen 2011. Die USA, Grossbritannien und Frankreich interpretierten das Uno-Mandat zum Schutz der Bevölkerung als Freipass für einen Regimewechsel – womit Russland und China überhaupt nicht einverstanden waren. Hinzu kamen die Sanktionen gegen Russland nach der Annexion der Krim 2014 und der Invasion der Ukraine 2022. Auch das Verhältnis zwischen den USA und China hat sich in den letzten Jahren verschlechtert. Das alles heisst aber nicht, dass die Grossen die Kleinen einfach herumkommandieren.
Nein?
Die Schweizer Diplomaten sind sehr gut vorbereitet – ich muss es wissen, ich habe eine Anzahl von ihnen geschult und auf die Zeit im Uno-Sicherheitsrat vorbereitet (lacht). Mehrere Leute, mit denen ich kürzlich am Uno-Hauptsitz in New York gesprochen habe, sagten mir: Die Schweiz ist jenes Land, das sich am besten auf seinen Sitz im Uno-Sicherheitsrat vorbereitet hat.
Thomas Biersteker (72) ist Honorarprofessor für Internationale Beziehungen am Institut für Internationale Studien und Entwicklung (IHEID) in Genf und Forscher am Woodrow Wilson International Center in Washington, DC. In Zusammenarbeit mit der Abteilung für Sanktionen des Uno-Sicherheitsrats unterrichtet er zudem Diplomaten jener Länder, die neu in den Uno-Sicherheitsrat gewählt wurden, über die Geschichte und Praxis der aktuellen Uno-Sanktionsregelungen. Biersteker wohnt mit seiner Familie in einem Chalet in den Walliser Alpen sowie in Washington DC.
Thomas Biersteker (72) ist Honorarprofessor für Internationale Beziehungen am Institut für Internationale Studien und Entwicklung (IHEID) in Genf und Forscher am Woodrow Wilson International Center in Washington, DC. In Zusammenarbeit mit der Abteilung für Sanktionen des Uno-Sicherheitsrats unterrichtet er zudem Diplomaten jener Länder, die neu in den Uno-Sicherheitsrat gewählt wurden, über die Geschichte und Praxis der aktuellen Uno-Sanktionsregelungen. Biersteker wohnt mit seiner Familie in einem Chalet in den Walliser Alpen sowie in Washington DC.
Dennoch dürfte es von Staaten wie den USA oder China Druckversuche auf die Schweiz geben.
Zweifellos. Aber die gibt es auch so. Als die Schweiz zum Beispiel die EU-Sanktionen gegen Russland anfangs nicht übernehmen wollte, gab es Anrufe aus Brüssel und Washington.
Die USA machten Druck auf die Schweiz, die Sanktionen zu übernehmen?
Exakt. Sie sehen: Druckversuche von Grossmächten wie den USA gibt es schon heute, gerade wegen der wichtigen Rolle des Schweizer Finanzplatzes. Und was man nicht vergessen darf: Die Schweiz gewinnt durch ihren Sitz im Uno-Sicherheitsrat auch an Einfluss – denn die Grossmächte sind teils auf die Unterstützung der Schweiz angewiesen. Zudem hat die Schweiz dank ihrer langjährigen Erfahrung in der Konfliktlösung die Möglichkeit, eine aktive Rolle im Uno-Sicherheitsrat zu spielen.
Ein Beispiel, bitte.
Die Schweiz wird voraussichtlich das Komitee zu den Sanktionen gegen Nordkorea präsidieren. Das Dossier ist kompliziert, weil sich China, Russland und die USA über das weitere Vorgehen nicht einig sind. Die Schweiz hat – auch dank ihrer Beziehungen zu Nordkorea – die Chance, eine Kompromisslösung vorzuschlagen. Wenn das einem Land gelingen kann, dann der Schweiz.
Selbst kleine Staaten können also Erfolge erzielen?
Absolut. Ich glaube, viele Schweizer sind sich gar nicht bewusst, welch wichtige Rolle ihr Land schon bis anhin spielte, zum Beispiel bei Reformen der Prozesse des Sicherheitsrats.
Das klingt etwas abstrakt …
Ein Beispiel: Die Schweiz hat – zusammen mit anderen Staaten – erreicht, dass es eine Ombudsperson für Personen gibt, die auf einer Terror-Sanktionsliste der Uno landen. Davor gab es für die Betroffenen keine Möglichkeit, von der Liste wieder gestrichen zu werden. Zudem brachte die Schweiz vor einigen Jahren eine Reform auf den Weg, wonach bei Genozid oder Verbrechen gegen Menschlichkeit zwei Vetos nötig sind, um eine Resolution zu blockieren. Das würde verhindern, dass Grossmächte einzelne Länder protegieren, in denen das Regime gegen die eigene Bevölkerung vorgeht. Wie etwa China mit Myanmar, Russland mit Syrien oder die USA mit Israel.
Lassen Sie mich raten: Die Grossmächte haben ihr Veto eingelegt.
In der Uno-Generalversammlung wäre eine Mehrheit der Staaten dafür gewesen, doch einige der Vetomächte waren dagegen. In der Folge übten sie Druck auf den Uno-Generalsekretär aus, um zu erreichen, dass die Änderung eine zwei Drittel-Mehrheit statt einer einfachen Mehrheit erfordern würde. Statt die Resolution zur Abstimmung zu bringen – und ein Scheitern zu riskieren –, zog die Schweiz sie zurück. Nun hat Frankreich den Ball aufgenommen und will die Frage erneut aufs Tapet bringen. Es sind kleine Schritte, aber: Die Schweiz war in den letzten 20 Jahren bei Fragen der institutionellen Reformen der Uno ein wichtiger Akteur.