Demo in Liestal BL, Party-Randale in St. Gallen, Masken-Zoff in Zürich – an allen Enden und Ecken des Landes kommt es zu Zusammenstössen. Immer mehr Menschen geht die Corona-Geduld aus. Das bemerkt auch Infektiologe Manuel Battegay (61), bis vor kurzem Vizepräsident der wissenschaftlichen Taskforce. Er fordert daher ein Umdenken in der Pandemiebekämpfung, wie er BLICK am Telefon erklärt.
BLICK: Herr Battegay, der Bundesrat verzichtet bis Mitte April auf grössere Lockerungen. Damit sind Sie als Infektiologe sicher einverstanden, oder?
Manuel Battegay: Grösstenteils ja. Jetzt, wo die Impfung für sehr viele in greifbarer Nähe ist, müssen die Fallzahlen umso mehr klein gehalten werden. Viele Tote wären jetzt besonders tragisch.
Wieso? Die gefährdete Risikogruppe der über 75-Jährigen ist doch nahezu durchgeimpft.
Aber es fehlt noch die grosse Gruppe der 50- bis 75-Jährigen. Patienten aus dieser Altersgruppe wurden während beider Wellen auf den Intensivstationen betreut. Das Durchschnittsalter der Corona-Patienten lag in Akutspitälern nicht bei 80, sondern bei circa 65 Jahren. Die oft wiederholte Vorstellung, dass Intensivstationen durch ganz alte Leute an den Anschlag gebracht werden, ist grundfalsch. Wir müssten mit vielen schweren Erkrankungen und Todesfällen rechnen, wenn die Fallzahlen sehr stark ansteigen.
Heisst das, dass wir so lange nicht öffnen sollten, bis die über 50-Jährigen geimpft sind? Das dauert noch Monate!
Das ist für mich tatsächlich keine Lösung. Aber einfach lockern, wie das viele fordern, ist auch nicht möglich. Streng kontrolliert und mit Begleitmassnahmen liegen schrittweise Öffnungen jedoch durchaus drin. Dies, wenn die Impfgeschwindigkeit sehr hoch ist. Wichtig ist aber: Ein Grad an Disziplin der ersten Welle muss wieder her bei der Umsetzung von Schutz- und Hygienemassnahmen, damit man sehr bald öffnen kann.
Manuel Battegay (61) leitet seit knapp 20 Jahren die Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Unispital Basel. Ausserdem war er bis vor kurzem Vizepräsident der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes. Der Basler kommt aus einer Ärztefamilie: Schon sein Vater war Chefarzt in Basel, einer seiner Brüder arbeitete als Chefarzt am Unispital Zürich. Battegay ist verheiratet und zweifacher Vater.
Manuel Battegay (61) leitet seit knapp 20 Jahren die Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Unispital Basel. Ausserdem war er bis vor kurzem Vizepräsident der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes. Der Basler kommt aus einer Ärztefamilie: Schon sein Vater war Chefarzt in Basel, einer seiner Brüder arbeitete als Chefarzt am Unispital Zürich. Battegay ist verheiratet und zweifacher Vater.
Was genau schwebt Ihnen vor?
Einfach gesagt: Wenn sich alle an die Grundmassnahmen halten würden, wäre viel mehr möglich. Auch wenn alle – inklusive mir – es fast nicht mehr hören können: Abstand, Hygiene und Maske bleiben, sehr diszipliniert angewendet, das Wichtigste. Da wurde viel zu viel erlaubt. Die wichtigsten Massnahmen sind also einfach. Zusätzlich sind konkrete, gezielte Informationen und Kampagnen nötig, damit sich gefährdete Menschen ihres Risikos besser bewusst sind. Und wir reden da von fast einem Drittel der Schweizer Bevölkerung.
Andere Länder verschärfen wieder.
Ja, aber mit mässigem, das heisst vor allem nicht anhaltendem Erfolg. Man kann nicht immer noch mehr verbieten! Nein, wir müssen dazu übergehen, die Menschen über ihr persönliches Risiko zu informieren. Einem übergewichtigen Mann, der älter als 50 ist, an Bluthochdruck und Diabetes leidet, würde ich davon abraten, ein Bier auf einer Restaurantterrasse vor einer vollständigen Impfung zu nehmen. Aber ist ein Verbot längerfristig tragbar? Nein.
An welche schrittweisen Lockerungen haben Sie gedacht?
Kulturelle Anlässe können aus meiner Sicht zugelassen werden, natürlich mit adaptierten Zuschauerzahlen und Schutzkonzepten. Auch Restaurantterrassen sollte man bald öffnen – mit schon vorgesehenen Kapazitätsbeschränkungen und vorgängiger Reservierung, damit kein Gedränge entsteht. Die Covid-App ist heutzutage mit anderen Apps für Gästeregistrierungen verbunden. Das sollte Standard sein. Systematisches, breiteres Testen speziell bei Clustern mit viel Menschenkontakt wie in Schulen und Unternehmen ist ein Muss. Selbsttests können unterstützen, auch wenn sie eine tiefere Quote haben, Infizierte zu entdecken.
Das alles trotz dritter Welle?
In meiner Erfahrung als Arzt steht der Mensch mit allen Zweifeln im Mittelpunkt. Gerade deshalb sind Aufklärung, Disziplin und Kontrolle zentral. Die Leute sehen ja, was rundherum geschieht: Tausende treffen sich ohne Schutzmassnahmen zu Corona-Demos, ich höre im weiteren Umfeld auch von grossen privaten Treffen. Das ist für viele potenziell gefährlich. Demonstrationen wie in Liestal sind in höchstem Masse kontraproduktiv. Letzte Woche habe ich im Zug eine Person gesehen, die ohne Maske lauthals sprach. Ich ärgere mich wirklich ab solcher Ignoranz und Rücksichtslosigkeit. Auch wenn es für mich unangenehm war, machte ich den Herrn auf sein Fehlverhalten aufmerksam. Aber das zeigt: Mehr Massnahmen nützen nichts, wenn die Leute nicht mehr mitmachen. Wir müssen umschalten, in einen Modus, bei dem die Menschen wieder eine aktive Rolle bekommen, dann werden die nötigen Massnahmen auch besser eingehalten, bis genügend Menschen geimpft sind. Diesen Prozess müssen wir möglichst schnell beginnen. Aktivere Rolle heisst aber auch mehr Zivilcourage, besonders um Mitmenschen in Risikosituationen auf ihr Fehlverhalten hinzuweisen. Das ist der Preis für schrittweise Lockerungen.
Ihre Strategie steht und fällt mit vielen Tests.
Das stimmt. Breiteres Testen ist eine der wichtigen Leitplanken. Ich hoffe wirklich, dass die Selbsttests bald und in ausreichender Zahl verfügbar sind! Denn dafür braucht es kein grosses Konzept, da kann man plus/minus einfach loslegen. Die besten Selbsttests sind zu 85 bis 90 Prozent zuverlässig – insbesondere dann, wenn man auch ansteckend ist. Das ist eine Riesenchance vor Familienbesuchen, Treffen mit Freunden, Sport- und Kulturanlässen. Man muss aber wissen, dass die Sicherheit nicht hundert Prozent beträgt und ein solcher Test auch nur 12 bis 24 Stunden gilt. Aus diesem Grund müssen die Grundmassnahmen weiterhin eingehalten werden – auch bei negativem Testresultat.
Aber bei den Selbsttests fehlt jegliche Kontrolle. Betrug ist sehr einfach.
Klar, so Leute wird es geben. Aber ich gehe davon aus, dass es eine Minderheit ist. Denn der persönliche Nutzen ist gross, selbst für gesunde junge Menschen. Sie können so nämlich das Risiko reduzieren, ihre Eltern oder Grosseltern oder auch junge Freunde, die eine Krankheit haben, anzustecken. Wichtig ist: Wer einen positiven Schnelltest hat, sollte unbedingt einen PCR-Test machen. Aus Eigeninteresse und zum Wohl aller. Nur so können wir wissen, wie viel Virus und welche Virusvarianten kursieren.
Sie wollen kontrolliert und mit flankierenden Massnahmen lockern. Sind Verschärfungen für Sie also kein Thema?
Doch, wenn die Ansteckungsrate and Hospitalisationen stark ansteigen, kommen wir um diese Diskussion nicht herum. Aber sonst wäre ich in der Tat sehr zurückhaltend damit. Impfungen werden in den nächsten drei Monaten weitere unglaubliche Verbesserungen mit sich bringen. Um Massnahmen bald schrittweise zu lockern, was ich für möglich halte, muss die Schweiz jetzt das gezielte Testen massiv verstärken und parallel sehr schnell und sehr viel impfen. Behörden und Gesundheitsfachleute sollen viel konkreter und deutlicher informieren. Und an allen ist es, sich sehr diszipliniert an Schutz- und Hygienemassnahmen zu halten. Es muss erneut ein Ruck durch die Gesellschaft gehen.
Mit weiteren Experten hat Manuel Battegay angeregt, jetzt – wie schon vor Weihnachten – nochmals die Botschaften zu verstärken. Auf der Website des Bundesamts für Gesundheit finden sich daher nun Corona-Frühlingstipps. Diese Informationen sollen helfen, das persönliche Risiko in Bezug auf Aktivitäten besser einzuschätzen, wie Battegay sagt. Welches Risiko habe ich persönlich? Welches Risiko möchten ich und mein Gegenüber eingehen? Wie kann ich mein Risiko und/oder das Risiko meines Gegenübers minimieren? «Ich bin sehr dafür, dass wie damals bei Aids, als grosse Kampagnen die Benutzung von Kondomen erklärt haben, Inserate, Plakate und Werbespots differenziert informieren», so der Infektiologe.
Mit weiteren Experten hat Manuel Battegay angeregt, jetzt – wie schon vor Weihnachten – nochmals die Botschaften zu verstärken. Auf der Website des Bundesamts für Gesundheit finden sich daher nun Corona-Frühlingstipps. Diese Informationen sollen helfen, das persönliche Risiko in Bezug auf Aktivitäten besser einzuschätzen, wie Battegay sagt. Welches Risiko habe ich persönlich? Welches Risiko möchten ich und mein Gegenüber eingehen? Wie kann ich mein Risiko und/oder das Risiko meines Gegenübers minimieren? «Ich bin sehr dafür, dass wie damals bei Aids, als grosse Kampagnen die Benutzung von Kondomen erklärt haben, Inserate, Plakate und Werbespots differenziert informieren», so der Infektiologe.