Albin Kurti (44) hat es geschafft. Nachdem seine «Bewegung für Selbstbestimmung» im Oktober die Wahlen gewonnen hatte, folgten lange Koalitionsverhandlungen mit der rechten «Demokratische Liga». Seit dem 3. Februar steht die neue Regierung für den Kosovo. SonntagsBlick trifft den Premier in seinem Büro in Pristina. Und ja: Wir sprechen im Folgenden von «Kosova», wie das Land auf Albanisch heisst.
Sie empfangen uns an einem Sonntagabend in Ihrem Büro. Haben Sie heute nicht frei?
Albin Kurti: Wir haben unsere Aufgabe als neue Regierung Kosovas eben erst aufgenommen. Unsere Ziele sind sehr ehrgeizig. Bis die Dinge richtig laufen, haben mein Team und ich keine freien Tage.
Was sind Ihre Prioritäten?
Wir wollen radikale Reformen in diesen Bereichen: Wirtschaft, Recht, Bildung, Gesundheit, Sicherheit. Die Wahlen letzten Oktober haben gezeigt: Die Republik Kosova hat ein grosses Demokratie-Potential. Ein weitaus grösseres als in den umliegenden Balkan-Ländern, wo es für die Opposition unmöglich ist, zu gewinnen. Die Bevölkerung in Kosova hatte den Mut, für Veränderung zu wählen!
Wie erreichen Sie diese Veränderungen?
Ein Beispiel: Es existiert keine Verbindung zwischen unserem Bildungssystem und der hiesigen Wirtschaft. Wir müssen endlich eine Brücke zwischen diesen essentiellen Bereiche unserer Gesellschaft schlagen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir das duale Schulsystem einführen – so wie es die Schweiz hat.
Sie sagen, es gebe keine Verbindung zwischen Bildung und Wirtschaft. Wie zeigt sich das konkret?
Laut einer aktuellen Studie sind nicht einmal fünf Prozent der Mitarbeitenden während des ersten Monats ihrer Beschäftigung für ihre Arbeit qualifiziert! Unsere Unternehmen zahlen den Preis für die fehlende Bildung, die unser Schulsystem decken müsste.
Was bedeutet dies für die Firmen?
Die Unternehmen sind schwach und können untereinander nicht konkurrieren. Ausserdem müssen Sie bedenken, dass 90 Prozent aller Firmen in Kosova weniger als zehn Mitarbeiter beschäftigen. Diesen Kleinunternehmen stehen einige Oligarchen gegenüber, die von der Korruption und der Kriminalität der letzten Jahre profitiert und ihre Monopole errichtet haben.
Wie könnte die Schweiz Sie bei der Umsetzung Ihrer Ziele unterstützen?
Das Know how und die Erfahrung von Ländern wie der Schweiz oder Deutschland sind gerade bei der Umsetzung des dualen Schulsystems unverzichtbar. Kosovas Wirtschaft braucht aber vor allem auch eines: Investoren.
Wie holen Sie diese ins Land?
Die Diaspora muss hier eine Vorreiterrolle spielen. Damit die Auslandalbaner in Kosova investieren, haben wir als Regierung dafür zu sorgen, dass Recht und Ordnung herrschen. Keine Diskriminierung, keine Privilegien, gleiches Recht für alle. Und natürlich braucht es eine funktionierende Infrastruktur.
Sie klingen sehr selbst- bewusst ...
Laut einer Studie spielt bei den albanischen Unternehmen im Ausland der Profit eine zweitrangige Rolle. Viel wichtiger ist ihnen die Sicherheit im Land. Darum sind wir überzeugt: Eliminieren wir die Korruption und die organisierte Kriminalität, schaffen wir die besten Bedingungen, um Kosova attraktiv für albanische Investoren zu machen.
Warum sind gerade albanische Investoren so wichtig?
Als Schweizer Unternehmer würde ich auch zuerst schauen, inwiefern albanische Kollegen in Kosova investieren, bevor ich selber tätig werde.
Hunderttausende Albaner sind einst ins Ausland geflüchtet. Sollen diese Menschen zurückkehren?
Es braucht jetzt eine Konferenz mit nationalen Investoren. Wir müssen gut ausgebildete Frauen und Männer ins Land holen, die in wirtschaftlich und demokratisch fortschrittlichen Ländern aufgewachsen und ihre Ausbildung dort genossen haben. Wir benötigen ihr Know how und ihre Arbeitsethik. Dies könnte auch im Rahmen eines ein- oder zweijährigen Programms stattfinden.
Haben Sie keine Angst um Ihre Sicherheit? Schliesslich sind Sie für viele einflussreiche Kreise eine Art Spielverderber.
Kosovas Bürgerinnen und Bürger sind die Spielverderber. Denn sie gaben uns ihre Stimmen, damit wir dem Spiel ohne Regeln endlich ein Ende setzen. Denn ein Land zu regieren, ist kein Spiel!
Aber haben Sie Angst?
Ich habe mich entschieden, keine Angst zu haben. Fünf von 15 Ministerien werden jetzt von Frauen geleitet, unter anderem das Justizministerium. Ich bin überzeugt, dass es keine Gleichberechtigung in einer Gesellschaft geben kann, ohne die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Jeder Erfolg, ohne den Einbezug von Frauen, ist ein Misserfolg und auf längere Sicht zum Scheitern verurteilt. Nur jede achte Frau in Kosova ist berufstätig. Die Frauen sind von ihren Männern, Brüdern, Vätern finanziell abhängig. Das muss sich ändern.
Wie wollen Sie dies ändern?
Ein Beispiel: In Kosova gibt es nur 33 Kindergärten. Wir möchten in den nächsten Jahren die Zahl auf 150 erhöhen. Damit Frauen in der Berufswelt Fuss fassen können, muss der Staat dafür sorgen, dass es im Land genug Kindergärten, Schulen und Krippen gibt.
Viele Frauen sind Opfer häuslicher Gewalt. Auch viele junge Frauen, die einen albanischen Partner in der Schweiz finden, machen diese schreckliche Erfahrung.
Gewalt an Frauen gibt es weltweit. Aber wir müssen uns auch dieser Fälle bewusst werden, in denen junge Frauen ins Ausland heiraten und dort Opfer von häuslicher Gewalt werden. Es macht den Anschein als würden wir häusliche Gewalt exportieren. Jede Gesellschaft muss entschieden dagegen ankämpfen.
Braucht es härtere Gesetze?
Kosova hat keine schlechten Gesetze. Sie entsprechen denen der Europäischen Union. Das Problem liegt vielmehr in der Anwendung und Durchsetzung dieser Gesetze! Das heisst: Posten dürfen nicht mehr nach Namen oder Parteizugehörigkeit vergeben werden, sondern nach Qualifikation und Anforderungen.
Hängt die Korruption in Kosova mit der Kultur zusammen?
Auf keinen Fall! Die Korruption in Kosova ist nicht sehr verbreitet. Sie ist aber in der Spitze konzentriert.
Wäre die Korruption in der Kultur verankert, könnte die Opposition nie gewinnen.
Ein anderes Thema: Serbien.
Dieser Jahrhundert-Konflikt herrschte ja nicht zwischen Albanern und Serben. Es war ein Konflikt zwischen dem Staat Serbien und der albanischen Bevölkerung.
Wie würden Sie die Lage zwischen den beiden Ländern heute beschreiben?
Auf der einen Seite haben Sie das Gejammer Serbiens, weil es das Territorium Kosovas verloren hat. Ein Territorium, das es ohne die albanische Bevölkerung wollte. Auf der anderen Seite haben Sie die Leiden und Schmerzen der albanischen Bevölkerung, die nicht nur vom letzten Krieg stammen.
Was braucht es, damit echter Frieden entsteht?
Dazu reicht es bei weitem nicht aus, dass Serbien Kosova als Staat anerkennt. Konkret braucht es zwei Vereinbarungen, um einen echten und langfristigen Frieden in der Region zu schaffen. Es braucht zum einen eine Vereinbarung, die unsere gemeinsamen Werte betrifft: Sicherheit, Demokratie, Menschenrechte, Stabilität, Entwicklung. Diese Vereinbarung betrifft die Zukunft ...
... und dann braucht es eine zweite Vereinbarung zur Vergangenheit?
Exakt. Es braucht eine klare Vereinbarung darüber, was in diesem Krieg tatsächlich geschehen ist. Diese Vereinbarung bringt dann den Frieden.
Herr Kurti, in weiten Teilen der Bevölkerung herrscht schon fast eine enthusiastische Stimmung.
Ich denke, die Menschen haben sich für die vergangenen Regierungen geschämt. Nach der Befreiung 1999 und der Unabhängigkeitserklärung 2008 empfinden die Leute die Wahl unserer Regierung als dritte Befreiung.
Die Menschen setzen grosse Hoffnungen in Sie.
(lacht) Sehen Sie! Und Sie fragen mich, weshalb ich auch am Sonntag arbeite.