Jakob Kellenberger (74) leitete als Chefunterhändler die Verhandlungen der Schweiz mit der Europäischen Union zu den bilateralen Verträgen. Von 2000 bis 2012 war er Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Das Rampenlicht suchte er nie. Im Gespräch mit BLICK wägt er jedes seiner Worte ab. Kellenberger will nicht pauschalisieren, hängt hinter fast jede seiner Aussage ein fragendes «Oder nicht?» an. Dabei hat er ein Leben lang mit den Machthabern dieser Welt Klartext geredet. Nächste Woche erscheint ein neues Buch über den Spitzendiplomaten.
BLICK: Sie werden in Ihrer Biografie als «unmöglicher Mensch» beschrieben. Freut Sie das?
Jakob Kellenberger: Diese Version von mir ist offenkundig möglich.
Das ist nun eine sehr diplomatische Antwort. Unmöglich bescheiden seien Sie.
Ich sehe mich nicht als unmöglich bescheidenen Menschen. Aber ich finde Überheblichkeit lächerlich.
Was macht Ihnen Hoffnung, wenn Sie diese Welt anschauen?
Die Lebensliebe der Menschen und Politiker vom Format eines Emmanuel Macron.
Macron will wegen der Brände im Amazonas das Freihandelsabkommen Mercosur stoppen, Bundesrat Guy Parmelin hingegen ist stolz auf dieses Abkommen. Was halten Sie davon?
Ich finde, dass mir für eine Stellungnahme wichtige Beurteilungselemente fehlen. Die Freihandelsabkommen sind wichtig für die Schweiz. Sie steht unter besonderem Druck, solche abzuschliessen, weil die Beziehungen zur EU noch nicht bereinigt sind. Ich kann im Übrigen die Menschen verstehen, die mit der vom brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro verfolgten Politik Mühe haben.
Bundesrat Ignazio Cassis definiert die Entwicklungshilfe neu. Priorität haben nun die wirtschaftlichen Interessen der Schweiz. Was sagen Sie dazu?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass Bundesrat Cassis Werte wie Gerechtigkeit, Rechtsstaat oder menschliche Würde auf dem Altar der Wirtschaft opfern würde.
Es ist so.
Vielleicht verfolge ich das auch zu wenig. Aber das kann ich mir wirklich fast nicht vorstellen. In meiner Tätigkeit als Präsident der Aufnahmekommission für neue Diplomaten lernte ich ihn von einer menschlichen Seite kennen. Traditionell ruht die Aussenpolitik der Schweiz auf zwei Füssen: auf den wirtschaftlichen Interessen und dem Einsatz für die Werte. Ich habe nie etwas gelesen, dass er dem eine Absage erteilen würde.
Vereinfacht sagt Cassis: Entwicklungshilfe muss mehr Nutzen haben für die Schweiz.
Solange die Entwicklungsziele nicht vernachlässigt werden, habe ich keinen Einwand.
Sie haben die einflussreichsten Politiker der Welt getroffen. Welche Begegnung haben Sie nicht vergessen?
Wladimir Putin in meinem ersten Amtsjahr als IKRK-Präsident. Ich ersuchte den Zugang zu allen Personen, die im Zusammenhang mit dem Tschetschenien-Krieg in Gefangenschaft waren. Obwohl er rechtlich nicht zur Gewährung des Zugangs verpflichtet war, gewährte er ihn.
Und welche Zivilisten sind Ihnen in Erinnerung geblieben?
Ich denke da an Scheichs in einem Vertriebenenlager in Darfur. Die sich darüber beklagten, dass ihre Frauen beim Sammeln von Brennholz vergewaltigt werden. Ich fragte sie, weshalb sie nicht selber das Brennholz sammelten. Die darauf folgende Stille war unerträglich.
Sie haben keine Angst, Menschen vor den Kopf zu stossen.
Man muss Leuten vor den Kopf stossen, wenn man ihnen gewisse Sachen klarmachen will.
Sie haben viele Machthaber getroffen, die nur Menschen um sich scharten, die ihnen zustimmen. Welche Gefahr birgt das?
Die Folgen können dramatisch sein, weil man so gewisse wichtige Entwicklungen übersieht. Ganz viele mächtige Leute haben Mühe mit Widerspruch. Es gibt darum in Politik und Wirtschaft Führungskräfte, die sich nur mit gleichgesinnten Mitarbeitern umgeben. Man sollte eine kritische, aber loyale Umgebung um sich schaffen. Solche Leute stehen aber nur zur Verfügung, wenn sie fühlen, dass ihr kritischer Geist gewünscht und geschätzt wird. Ich sehe oft, dass das nicht passiert. Das ist ein grosses Problem.
Wie stehen Sie zur Macht?
Gegenüber der Macht als solches bin ich respektlos. Einfluss und Macht sind per se keine Auszeichnungen und verdienen keine Achtung. Wird die Macht aber eingesetzt, um die Lebensbedingungen der Mitmenschen zu verbessern, habe ich Achtung davor.
Verändert Macht Menschen?
Macht ändert viele Menschen. Die Macht bekommt Macht über den Menschen – selten eine glückliche Entwicklung.
Sie haben die Doppelzüngigkeit der Machthaber dieser Welt erlebt. Der Ex-US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld behauptet, die Insassen von Guantánamo würden menschlich behandelt. Beim syrischen Präsidenten Bashar al-Assad haben Sie Ähnliches erlebt. Was machte das mit Ihnen?
Solche Vorfälle haben aus mir einen Menschen gemacht, der den blossen Worten wenig traut und sich aufgrund dieser kein Urteil bildet. Mich interessiert, was auf die Worte folgt. Nicht nur bei den Herren Assad und Rumsfeld. Ihnen scheint mir gemeinsam, dass sie der Ansicht sind, die Menschenrechte seien nicht auf mutmassliche Terroristen anwendbar.
Sie haben immer versucht, sich in beide Konfliktparteien einzufühlen, beispielsweise im Gaza-Konflikt. Ist Ihnen das leicht gefallen?
Sie erwarten kein Ja und bekommen auch keines.
Warum ist es trotzdem wichtig?
Es ist eine Erfahrung, die ich immer wieder gemacht habe: Die Menschen schätzen es, wenn man ihnen zuhört, mit dem Ziel ihre Lage zu verstehen. Ihnen zuerst das Wort gibt, bevor man seine eigenen Anliegen anbringt. Das hat auch mit einem Respekt vor dem anderen zu tun. Man will ihn verstehen, tritt nicht als Lehrer auf. Gerade in der angespannten Situation eines Kriegs ist das wichtig – sonst ist der Dialog rasch zu Ende. Wichtig ist dann aber auch, zu sagen, wo man nicht einverstanden ist. Verstehen ist nicht das Gleiche wie einverstanden sein.
Sie hatten selbst in Kriegsgebieten Gedichte dabei. Warum?
Ich erinnere mich, als ich 2001 in einer unmöglichen politischen Situation nach Kabul gekommen bin, da hatte ich mein Heftlein mit Gedichten bei mir. Sie sind mir lieb. Sie verleihen eine Form von Geborgenheit. Wenn man nach schwierigen Situationen wieder diese Gedichte vor sich hat, ist es eine Art und Weise des Ausgleichs. Es ist eine vertraute Welt, die man mit sich tragen kann.
Was halten Sie vom Menschen nach all dem, was Sie gesehen haben?
Der Mensch ist zum Grossartigsten und zum Verwerflichsten fähig.
Was macht einem Diplomaten wie Ihnen Sorgen, wenn er sich die Welt heute anschaut?
Die Verrohung und die echte Gefahr eines grösseren Kriegs, der im Nahen oder Mittleren Osten seinen Ausgang nehmen wird.
René Sollberger: «Jakob Kellenberger. Zwischen Macht und Ohnmacht – Annäherung an einen Diplomaten», NZZ Libro. 34 Franken. Erscheint am 4. September.
Jakob Kellenberger (74) trat 1974 in den diplomatischen Dienst der Schweiz ein, und leitete als Chefunterhändler die Verhandlungen mit der EU zu den Bilateralen I. Von 2000 bis 2012 war der Appenzeller Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Seit 2013 ist er Präsident der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace. Er ist seit seiner Studienzeit verheiratet und hat zwei Töchter.
Jakob Kellenberger (74) trat 1974 in den diplomatischen Dienst der Schweiz ein, und leitete als Chefunterhändler die Verhandlungen mit der EU zu den Bilateralen I. Von 2000 bis 2012 war der Appenzeller Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Seit 2013 ist er Präsident der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace. Er ist seit seiner Studienzeit verheiratet und hat zwei Töchter.