Im Rücken der San Salvatore, vorne der Luganersee. Der Blick von der Dachterasse von Fulvio Pelli ist grossartig. Der ehemalige Präsident der FDP Schweiz empfängt BLICK bei sich zu Hause. Obwohl politisch nicht mehr aktiv, ist der gewiefte Politstratege Pelli noch immer interessiert und hinter den Kulissen wohl auch in die anstehende Kandidatenkür für die Nachfolge von Bundesrat Didier Burkhalter involviert.
BLICK: Als Sie 1995 in den Nationalrat gewählt wurden, gab es noch einen Tessiner Bundesrat. Wie hat Sie Flavio Cotti im Bundeshaus begrüsst?
Fulvio Pelli: Cotti hatte die Gewohnheit, bei jeder Session zu einem Frühstück einzuladen, sehr früh am Morgen. In seinem Büro gab es den besten Kaffee von Bern – dank seiner Tessiner Sekretärin. Ich war oft dort, um Kaffee zu trinken und zu diskutieren.
Was konnte Cotti für das Tessin tun?
Kein Bundesrat macht direkt etwas für seinen Kanton. Er hilft aber, die Haltung eines Kantons viel besser zu verstehen. Das erlaubt es in gewissen Situationen, Entscheide des Bundesrates besser zu gestalten. Es gab mit Cotti auch etwas mehr Bundespersonal italienischer Sprache. Aber das ist ja meist nicht nachhaltig.
1999 ist Cotti zurückgetreten. Sie haben danach im Bundeshaus jahrelang ohne Tessiner Bundesrat politisiert. Was hat gefehlt?
Bei gewissen wichtigen Ernennungen in der Verwaltung wäre es später gut gewesen. Wir haben mehrmals versucht, gute Leute nach Bern zu bringen. Ohne Erfolg.
Was macht das Tessin besser als die Deutschschweiz?
Wir machen nichts besser. Das Tessin ist einfach der dritte Teil der Schweiz. Unser Land hat vier Sprachen und Ethnien. Wenn nur Deutschschweizer dominieren, wäre die Schweiz ein Kanton Deutschlands. Das Rezept der Schweiz ist die Kombination. Deshalb braucht man im Bundesrat eine ständige Vertretung der französischsprachigen Regionen und manchmal auch eine Vertretung der italienischen Sprache.
Warum braucht es gerade jetzt einen Tessiner Bundesrat?
Ich glaube nicht, dass in nächster Zeit die anderen Parteien eine echte Chance haben werden, einen Tessiner Bundesrat zu stellen. Klappt es nun nicht, müssen wir wohl zehn bis zwanzig Jahre warten. Die Situation für die Tessiner FDP ist im Moment glücklich, denn es gibt derzeit drei welsche Bundesräte, und wir haben Leute, die fähig sind.
Warum ist die Situation so anders?
Im letzten Jahrhundert kam mit Nello Celio nur ein Tessiner Bundesrat aus der FDP. Alle anderen kamen aus der CVP. Die SP und die FDP sind stark in der ganzen Schweiz, vor allen auch im Welschland. Die CVP hingegen ist in der Romandie schwächer. Darum war es für das Tessin immer einfacher, den zweiten CVP-Sitz zu besetzen. Heute ist die Lage eine andere. Für die CVP ist es fast unmöglich, einen Tessiner zu wählen.
Die Christdemokraten haben ja nur noch einen Sitz.
Und dieser wird praktisch immer ein Deutschschweizer sein. Die SVP ist im Tessin sehr klein. Und die Sozialdemokraten sind im Tessin nur die viertgrösste Partei. Die aktuelle Chance ist sozusagen historisch. Darum sollten nun die anderen Parteien dem Tessin helfen.
Welche Sicht können die Tessiner einbringen, gerade mit ihrer Nähe zum EU-Staat Italien?
Was uns in Bern fehlte, ist die Fähigkeit, mit Italienern zu verhandeln. Deutschschweizer verhandeln mit Italien auf Englisch. Und sie kennen die Italiener nicht. Diese sind sehr schlau. Sie haben Systeme, um alles zu verlängern, komplizierter zu machen, die wir Tessiner gut kennen.
Wie wichtig ist die Beziehung zu Italien?
Wenn wir über Italien sprechen, sprechen wir über Bürokratie. Wenn wir über Italiener sprechen, sprechen wir über viele Leute, die uns gut gesinnt sind. Diese Kenntnis über das System Italien fehlt in Bern. Deshalb sind fast alle Verträge mit Italien blockiert. Und am Ende treten sie erst in Kraft, wenn Italien alles hat, was es will.
Was ist das schlimmste Beispiel?
Wir verhandeln bald seit Jahrzehnten für einen neuen Vertrag zur Grenzgänger-Besteuerung. Heute bezahlen diese fast keine Steuern – sehr wenig in der Schweiz, nichts in Italien. Die Korrektur dieser Situation gelingt nicht. Da hat der Bundesrat nicht glücklich agiert. Es gab eine Zeit, wo der damalige Regierungsrat Generali immer eine Woche vor dem Bundesrat nach Rom reiste und die Sache vorverhandelte. Da gab es schnellere Lösungen.
Burkhalter geht nach acht Jahren. Was ist sein Vermächtnis?
Burkhalter hat sehr gut begonnen als Innenminister, er hat die Rentenreform gut angepackt. Die wäre unter Burkhalter besser herausgekommen. Dann konnte er Aussenminister werden. Das hat für die Welschen eine grosse Attraktivität. Er hat der Schweiz international eine Rolle gegeben. Und die Probleme in der Beziehung mit der EU sind eigentlich innenpolitisch.
Diese Flanke hat Burkhalter vernachlässigt.
Ja, er ist ein Welscher. Und die Frage der sogenannten fremden Richter stellen sich fast nur die Deutschschweizer. Sie haben eine Identitätsproblem gegenüber der EU. Wir italienisch sprechenden Schweizer haben schon fremde Richter. Mit einem Bundesgericht in Lausanne, wo wir fast unvertreten sind.
Braucht es nun also einen Deutschschweizer im Aussenministerium?
Die Überzeugungskraft eines Neuenburgers in EU-Fragen ist im Thurgau relativ klein. Vielleicht wäre es gut, wenn die Deutschschweizer Mehrheit mal prüft, was es bedeutet, Aussenminister zu sein.
Eine Frage an den Strategen: Bundesrat Johann Schneider-Ammann ist im Pensionsalter. Auch er könnte noch zurücktreten. Wäre eine Doppelvakanz gut oder schlecht für das Tessin?
Für das Tessin ist es gleichgültig. Für die FDP wäre es schlechter. Lösen wir ein Problem nach dem anderen, es wären zu viele Kandidaten da. Ich würde Herrn Schneider-Ammann bitten, noch etwas zu bleiben.
Das Tessin hat bis zum heutigen Tag drei Kandidaten: Nationalrat Ignazio Cassis, Staatsrat Christian Vitta und alt Staatsrätin Laura Sadis. Wer ist Ihr Favorit?
Ich spreche nicht über Namen. Auf den ersten Blick hat Cassis die besten Chancen. Aber man muss nun schauen, wer in der FDP Tessin und der Fraktion in Bern einen guten Rückhalt hat. Und dann muss sich die FDP Tessin für einen Kandidaten entscheiden.
Der Tessiner Anwalt Fulvio Pelli (66) sass von 1995 bis 2015 für die FDP im Nationalrat. Von 2005 bis 2012 hatte Pelli zudem das Amt des Präsidenten der FDP Schweiz inne.
Davor war er drei Jahre lang Chef der freisinnigen Faktion. Pelli führte die FDP 2009 schadlos durch eine schwierige Bundesratswahl, bei der die CVP den Freisinnigen den Sitz streitig machte. Am Ende siegte Didier Burkhalter über Urs Schwaller.
Der Tessiner Anwalt Fulvio Pelli (66) sass von 1995 bis 2015 für die FDP im Nationalrat. Von 2005 bis 2012 hatte Pelli zudem das Amt des Präsidenten der FDP Schweiz inne.
Davor war er drei Jahre lang Chef der freisinnigen Faktion. Pelli führte die FDP 2009 schadlos durch eine schwierige Bundesratswahl, bei der die CVP den Freisinnigen den Sitz streitig machte. Am Ende siegte Didier Burkhalter über Urs Schwaller.