Fraktionsausflug der BDP, 10. Juni 2015. Beim Rundgang in der Empa, der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt, zeigt sich Eveline Widmer-Schlumpf (59) äusserts interessiert. Ausführlich lässt sie sich erklären, wie Motoren der Zukunft funktionieren. Und stellt – ganz Musterschülerin – viele Fragen. Und immer, wenn ein junger Forscher die Notwendigkeit der Energiewende betont, nickt die Bundesrätin – in ihrer Meinung bestärkt.
Von Amtsmüdigkeit keine Spur. Im Gegenteil: Das Projekt Energiewende bewegt die BDP-Frau, hält sie in ihrem Amt. Eines von mehreren Projekten, das sie unbedingt weitertreiben möchte.
Dennoch hält sich die Bündnerin bedeckt, ob sie zu den Bundesratswahlen im Dezember antritt – als Einzige im Bundesrat. Denn ihr Schicksal hängt von den Wahlen in einer Woche ab. Dieser Urnengang entscheidet nicht nur über die Kräfteverhältnisse in National- und Ständerat. Die Wahlen geben auch die Richtung für die Bundesratswahlen im Dezember vor. Und ganz im Zentrum steht die BDP-Bundesrätin, die die politische Schweiz spaltet:
- Reicht es am 18. Oktober für die Mitte-links-Koalition von SP, Grünen, CVP, BDP und wohl auch GLP, welche für Status quo plädiert – also einen breit abgestützten Bundesrat mit fünf Parteien?
- Oder gewinnt das rechte Lager mit SVP und FDP so viele Sitze dazu, dass Widmer-Schlumpf ihren Posten räumen muss?
Die Alternative zu Widmer-Schlumpf ist ein zweiter SVP-Bundesrat. Ein solcher steht für eine harte Haltung gegenüber der EU, für eine Energiepolitik mit AKW, für eine harte Gangart gegen Asylsuchende und Einwanderer. Kurz: für eine konservative Schweiz.
Auch Widmer-Schlumpf ist in ihrer Grundhaltung eine stramm bürgerliche Politikerin. Ihre alte politische Heimat war die Bündner SVP. Bei Steuerfragen liegt die Finanzministerin im Dauerstreit mit den Sozialdemokraten.
Richtig konservativ ist sie jedoch nur bei der Wahl ihres Handys. Die Bündnerin stemmt sich gegen den Trend zum Smartphone und setzt auf ein altes Nokia-Handy. Politisch tickt sie progressiver, sucht die Herausforderung. Sie liebt es, neue Lösungen für alte Probleme zu finden. Sie steht für den Wandel des Finanzplatzes, für die Abkehr vom vermeintlichen helvetischen Heilsversprechen: dem Bankgeheimnis. Den internationalen Standard zum automatischen Informationsaustausch hat sie massgeblich mitgeprägt – und durchgesetzt.
Sie steht für eine pragmatische Flüchtlingspolitik und einen ökologischen Wandel. Sie befürwortet eine aktive Weiterentwicklung der Beziehungen mit der EU, setzt auf Gespräche und neue Lösungen statt auf Konfrontation. Kurz: Widmer-Schlumpf steht für bürgerliche Progressivität. Das bringt die Rechten auf die Palme – ihnen gilt sie als Wasserträgerin der Linken. Die Mitte-links-Koalition schätzt sie dafür – und will sie unbedingt im Amt halten.
Gedanken über einen Rücktritt hat sich Widmer-Schlumpf schon gemacht. Sie weiss zumindest genau, was sie danach nicht will: Sich als alt Bundesrätin zu diesem und jenem äussern. Sie werden den Mund halten, erzählte sie im kleinen Kreis. Dafür wäre dann mehr Zeit für die Enkelkinder und Musse, um einem Handörgeli aus der vom Vater geerbten Sammlung ein paar Töne zu entlocken.
Doch dazu wird es wohl nicht kommen. Eine starke Koalition in Bern will, dass sie im Finanzdepartement weiterhin die erste Geige spielt. «Ich hoffe, Eveline Widmer-Schlumpf tritt nochmals an», sagt SP-Präsident Christian Levrat (45). Sie solle die aufgegleisten Reformen – etwa die ökologische Steuerrefom – vollenden dürfen. Auch CVP-Chef Christophe Darbellay (44) plädiert für eine Wiederwahl.
Die SVP hingegen will ihre Intimfeindin durch einen SVP-Vertreter ersetzen und ihr die Schmach der Abwahl Christoph Blochers (74) endlich heimzahlen. Unterstützt wird sie von der FDP, welche Widmer-Schlumpf die Legitimation abspricht. Ziel der beiden Parteien ist quasi eine Neuauflage der Blocher-Legislatur. Mit je zwei Sitzen würden die beiden Parteien den Bundesrat dominieren.
Der Vize-Fraktionschef der FDP, Ignazio Cassis (54), fordert denn auch den Rücktritt: «Wenn die Verhältnisse so bleiben und die BDP auch nach den Wahlen nicht zu den vier grössten Fraktionen gehört, sollte Frau Widmer-Schlumpf ihr Amt zur Verfügung stellen.» Zwar mache die Finanzministerin ihren Job gut; aber ihre Partei habe einfach kein Anrecht auf einen Sitz.
An einen Rücktritt mag SVP-Chef Toni Brunner (41) nicht glauben: «Ich nehme an, Frau Widmer-Schlumpf wird wieder antreten», sagt er. Er könne nicht mehr tun als der Bundesversammlung anzubieten, dass die SVP bereit sei, in der Regierung mehr Verantwortung zu übernehmen.
Viel Hoffnung, dass das Parlament ihn erhört, hat Brunner derzeit nicht. «Bleiben die Mehrheitsverhältnisse im Parlament ungefähr gleich, wird sich auch die Zusammensetzung im Bundesrat nicht ändern», sagt er ernüchtert.
Widmer-Schlumpf hat auch im Volk Rückhalt. In Umfragen äussern sich mehr Leute für einen Verbleib der BDP im Bundesrat als für einen zweiten SVP-Sitz.
Die Chancen, dass Eveline Widmer-Schlumpf nochmals antritt, stehen gut. Sogar wenn der erwartete Rechtstrend sich bewahrheitet, könnte es für eine Mehrheit in der Bundesversammlung reichen. 2011 wurde sie mit 131 Stimmen gewählt – genügen würden aber schon 124. In einer Woche entscheidet sich, ob diese Mehrheit für Widmer-Schlumpf zustande kommt.